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Kolumne Die rebellische Mittelschicht

Eigentlich sollte die Mittelschicht das Wachstum in den Schwellenländern stabilisieren. Doch zurzeit geht sie auf die Barrikaden. Von Nouriel Roubini
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Nouriel Roubini ist Chairman von Roubini Global Economics und Professor für Ökonomie an der Stern School of Business der New York University.

Eine Definition einer Schwellenmarkt-Volkswirtschaft lautet, dass ihre politischen Risiken größer und die Glaubwürdigkeit ihrer politischen Strategien geringer sind als in den hochentwickelten Volkswirtschaften. Als nach der Finanzkrise die Volkswirtschaften der Schwellenmärkte weiter robust gewachsen sind, schien diese Definition überholt; nun, angesichts der jüngsten unter anderem durch eine geringere Glaubwürdigkeit der Wirtschaftspolitik und wachsende politische Unsicherheit angetriebenen Turbulenzen in den Schwellenländern scheint sie so relevant wie eh und je.

Man denke etwa an die sogenannten „fragilen Fünf“: Indien, Indonesien, die Türkei, Brasilien und Südafrika. Allen sind nicht nur wirtschaftliche und politische Schwächen (Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite, Wachstumsrückgang und Inflationsanstieg, schleppende Strukturreformen) gemein; alle stehen in diesem Jahr zudem vor Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen. Viele andere Schwellenländer – die Ukraine, Argentinien, Venezuela, Russland, Ungarn, Thailand und Nigeria – sehen sich ebenfalls mit erheblichen politischen und/oder gesellschaftlichen Unsicherheiten und inneren Unruhen konfrontiert.

Die Liste lässt den gefährlich instabilen Nahen Osten außer Acht, wo der Arabische Frühling in Libyen und Ägypten einem Winter brodelnder Unzufriedenheit Platz gemacht hat. Bürgerkriege wüten in Syrien und schwelen im Jemen, und Irak, Iran, Afghanistan sowie Pakistan bilden einen durchgehenden Bogen der Volatilität. Auch die aus territorialen Streitigkeiten zwischen China und vielen seiner Nachbarn – darunter Japan, die Philippinen, Südkorea und Vietnam – herrührenden geopolitischen Risiken lässt die Liste unberücksichtigt.

Mittelschicht leidet unter Inflation

Eine positive Vorstellung in Bezug auf die Schwellenmärkte besagt, dass Industrialisierung, Verstädterung, Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens und der Aufstieg einer konsumbestimmten Mittelstandsgesellschaft die langfristige wirtschaftliche und soziopolitische Stabilität in diesen Ländern stärken. Doch in vielen zuletzt von politischen Unruhen heimgesuchten Ländern – Brasilien, Chile, der Türkei, Indien, Venezuela, Argentinien, Russland, der Ukraine und Thailand – war es gerade die städtische Mittelschicht, die auf die Barrikaden gegangen ist. Genauso bildeten städtische Studenten und die Mittelschicht die Speerspitze des Arabischen Frühlings, bevor sie ihre Autorität an islamistische Kräfte verloren.

Das ist nicht unbedingt überraschend: In vielen Ländern profitierten Arbeiter und die Bauern auf dem Land vom Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens und dem Ausbau des sozialen Netzes; die Mittelschicht dagegen leidet unter steigender Inflation, schlechten öffentlichen Dienstleistungen, Korruption und staatlicher Einmischung. Zudem sind die Mittelschichten heute tendenziell lautstärker und politisch besser organisiert als früher – zum großen Teil, weil soziale Medien ihnen eine schnellere Mobilisierung ermöglichen.

Nicht alle der jüngsten politischen Unruhen sind unerwünscht; einige von ihnen könnten zu einer besseren Regierungsführung und einem stärkeren Bekenntnis zu einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik führen. In den „fragilen Fünf“ sind in Indien und Indonesien Regierungswechsel zu erwarten.

In einigen Ländern kann es nur besser werden

Doch es gibt eine große Unsicherheit. In Indonesien nimmt der Wirtschaftsnationalismus zu, was die Gefahr birgt, dass die Wirtschaftspolitik einem nach innen gerichteten Kurs folgen wird. In Indien ist unklar, ob es dem Kandidaten der oppositionellen Bharatiya Janata für das Amt des Ministerpräsidenten, Narendra Modi, bei einem Wahlsieg gelingen wird, Wachstumsstrategien, die er in Gujarat erfolgreich auf einzelstaatlicher Ebene eingeführt hat, auch auf nationaler Ebene umzusetzen. Viel wird davon abhängen, ob es ihm gelingt, seine sektiererische Haltung abstreifen und ein alle Bevölkerungsgruppen einbindender Führer zu werden.

In Südafrika, der Türkei und Brasilien sind Regierungswechsel dagegen unwahrscheinlich. Allerdings könnten die gegenwärtig Regierenden bei einer Wiederwahl einen politischen Kurswechsel vollziehen. Der südafrikanische Präsident Jacob Zuma hat sich als Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten einen unternehmensfreundlichen Wirtschaftsmagnaten ausgesucht und könnte sich auf marktorientierte Reformen zubewegen. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan kann seinen Traum von einer präsidialen Republik nicht umsetzen und wird seinen Gegnern – darunter einer großen Protestbewegung – in die nicht religiöse Mitte der Gesellschaft folgen müssen. Und die brasilianische Präsidentin Dilma Rousseff wird sich möglicherweise eine stabilere makroökonomische Politik zu Eigen machen und Strukturreformen einschließlich Privatisierungen vorantreiben.

Selbst in äußerst fragilen und risikobehafteten Fällen wie Argentinien, Venezuela und der Ukraine ist die politische und wirtschaftliche Lage inzwischen so schlecht, dass sie sich – sofern sich hier keine gescheiterten Staaten bilden – nur verbessern kann. Die scheidende argentinische Präsidentin Cristina Fernández Kirchener ist nicht mehr durchsetzungsfähig, und alle ihre potenziellen politischen Nachfolger werden gemäßigter sein. Venezuela hat mit Präsident Nicolás Maduro einen schwachen Führer, der letztlich durch eine gemäßigtere Opposition aus dem Amt gedrängt werden könnte. Und die Ukraine könnte sich, nachdem sie sich von einem gewalttätigen Kleptokraten befreit hat, im Rahmen eines wirtschaftlichen Wiederaufbauprogramms unter westlicher Führung stabilisieren – sofern das Land einen Bürgerkrieg vermeiden kann.

Staatskapitalismus hat Konjunktur

Im Nahen Osten bleibt die Situation stark risikobehaftet, und jeder wirtschaftliche und politische Wandel dürfte holprig sein und mehr als ein Jahrzehnt erfordern. Doch selbst hier wird eine allmähliche Stabilisierung letztlich zu mehr wirtschaftlichen Chancen führen.

In den meisten Fällen besteht also Grund zur Hoffnung, dass Veränderungen durch Wahlen und politische Umbrüche gemäßigte Regierungen hervorbringen werden, deren Bekenntnis zu einer marktorientierten Politik ihre Volkswirtschaften kontinuierlich in die richtige Richtung bewegen wird.

Natürlich sollte man die Risiken nicht aus den Augen verlieren. Die Schwellenvolkswirtschaften sind heute fragiler und schwankungsanfälliger als in jüngster Vergangenheit. Strukturreformen erfordern die Übernahme kurzfristiger Kosten, um langfristig zu profitieren. Ein Staatskapitalismus wie in China hat starke Anhänger unter den politischen Entscheidungsträgern in Russland, Venezuela und Argentinien, und selbst in Brasilien, Indien und Südafrika. Der Ressourcennationalismus gewinnt an Kraft, und dasselbe gilt für die Gegenreaktion auf den Freihandel und Zuströme ausländischer Direktinvestitionen. Tatsächlich könnten die zunehmende Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen in vielen Schwellenmärkten irgendwann zu einer Gegenbewegung gegen Liberalisierung und Globalisierung führen.

Das ist der Grund, warum das Wirtschaftswachstum in den Schwellenländern auf eine Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts ausgerichtet sein und die Ungleichheit verringern muss. Auch wenn Marktreformen notwendig sind: Dem Staat kommt eine Schlüsselrolle zu beim Aufbau eines sozialen Netzes für die Armen, der Aufrechterhaltung hochqualitativer öffentlicher Dienstleistungen, Investitionen in Aus- und Weiterbildung, Gesundheitswesen, Infrastruktur und Innovationen, der Durchsetzung eines machtbegrenzenden Kartellrechts für die Wirtschafts- und Finanzoligopole und der Gewährleistung echter Chancengleichheit für alle.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

Copyright: Project Syndicate, 2014.
 www.project-syndicate.org

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