Kenneth Rogoff war Chefökonom des IWF und ist Professor für Wirtschaft und Gesellschaftspolitik an der Harvard University
Ist das Zeitalter hoher Inflationsraten für immer vorbei? In einer Welt langsamen Wachstums, hoher Verschuldung und enormen Verteilungsdrucks ist die Frage sehr wichtig, ob die Inflation tot ist oder nur schläft. Ja, durch weitreichende institutionelle Verbesserungen bei den Zentralbanken wurden der hohen Inflation gewaltige Barrieren in den Weg gelegt. Aber ein großer Teil der Vertrauenswürdigkeit der Zentralbanken beruht letztlich auf dem größeren makroökonomischen Umfeld, in dem sie tätig sind.
In der ersten Hälfte der 1990er Jahre betrug die jährliche durchschnittliche Inflationsrate in Afrika 40 Prozent, in Lateinamerika 230 Prozent und in den Transformationsländern Osteuropas 360 Prozent. Und in den frühen 1980ern lag die Inflationsrate in den Industriestaaten im Durchschnitt bei fast 10 Prozent. Heute scheinen hohe Inflationsraten so weit entfernt, dass viele Analysten sie nur noch als theoretische Kuriosität betrachten.
Aber sie liegen damit falsch. Unabhängig davon, wie sehr die Zentralbanken die Inflationsrate lediglich als technokratische Entscheidung präsentieren möchten, ist sie letztlich doch eine soziale Wahl. Und einige der Faktoren, die in den beiden letzten Jahrzehnten zur Eindämmung der Inflation beigetragen haben, sind in den Hintergrund getreten.
Veraltete keynesianische Modelle
In den Jahren vor der Finanzkrise machten es die zunehmende Globalisierung und die technologischen Fortschritte den Zentralbanken viel einfacher, solides Wachstum und geringe Inflation miteinander in Einklang zu bringen. In den 1970ern war dies nicht der Fall. Damals waren Zentralbanker wegen der stagnierenden Produktivität und steigender Rohstoffpreise keine Helden, sondern Sündenböcke.
Die Notenbanken arbeiteten in dieser Zeit mit altmodischen makroökonomischen Modellen keynesianischer Art, die dem Irrglauben folgten, die Geldpolitik könne die Wirtschaft bei geringer Inflation und niedrigen Zinssätzen für unendliche Zeiten antreiben. Die Zentralbanker heute sind nicht mehr so naiv, und die Öffentlichkeit ist besser informiert. Aber die langfristige Inflationsrate ist immer noch das Ergebnis politischer Wahlmöglichkeiten, und nicht technokratischer Entscheidungen. Wenn die Wahlmöglichkeiten schwieriger werden, wächst die Gefahr für die Preisstabilität.
Ein kurzer Blick auf die Schwellenländer enthüllt, dass die Inflation noch lange nicht tot ist. Laut dem Weltwirtschaftsausblick des Internationalen Währungsfonds von April 2014 betrug die Inflation 2013 in Brasilien 6,2 Prozent, in Indonesien 6,4 Prouzent, in Vietnam 6,6 Prozent, in Russland 6,8 Prozent, in der Türkei 7,5 Prozent, in Nigeria 8,5 Prozent, in Indien 9,5 Prozent, in Argentinien 10,6 Prozent und in Venezuela sogar 40,7 Prozent. Diese Werte stellen zwar gegenüber den 1990ern eine große Verbesserung dar, sind aber sicherlich kein Beweis dafür, dass die Inflation auf dem Rückzug ist.
Sicherlich sind die Industriestaaten heute in einer völlig anderen Lage, aber immun sind sie wohl kaum. Viele der Experten, die sich nie vorstellen konnten, dass es in den Industriestaaten zu einer ernsten Krise kommen könnte, sind heute sicher, dass dort die Inflationskrisen ein für alle Mal gebannt sind.
Inflationsschutz durch geringes Kreditvertrauen erkauft
Eine grundlegendere Frage ist, wo genau man die Grenze zwischen Industriestaaten und Schwellenländern ziehen soll. In der Eurozone beispielsweise ist dies unklar. Stellen wir uns vor, es gäbe keinen Euro, und die südlichen Länder hätten ihre eigene Währung behalten – Italien die Lira, Spanien die Peseta, Griechenland die Drachme und so weiter. Hätten diese Länder heute ein Inflationsprofil wie die USA und Deutschland oder eher wie Brasilien und die Türkei?
Wahrscheinlich lägen sie irgendwo in der Mitte. Die europäische Peripherie hätte in diesem Fall von denselben institutionellen Fortschritten des Zentralbankwesens profitiert wie alle anderen, aber es gibt keinen Grund für die Annahme, ihre politischen Strukturen hätten sich radikal anders entwickelt. Die Öffentlichkeit in den südlichen Ländern hat den Euro genau deshalb begrüßt, weil dieser durch die Verpflichtung der nordeuropäischen Staaten zur Preisstabilität ein enormes Versprechen der Inflationsvermeidung enthielt.
Wie sich herausstellte, war der Euro nicht wirklich der Selbstläufer, der er zu sein schien. Der Inflationsschutz wurde durch geringes Kreditvertrauen erkauft. Hätten die europäischen Peripheriestaaten ihre eigenen Währungen, hätten die Schuldenprobleme wahrscheinlich direkt zu einer höheren Inflation geführt.
Keine Garantie gegen die Inflation
Ich behaupte nicht, dass die Inflation in sichere Häfen wie die USA oder Japan so bald zurückkehren wird. Obwohl die US-Arbeitsmärkte enger werden und die neue Fed-Vorsitzende eindringlich die Bedeutung von Vollbeschäftigung betont hat, besteht in naher Zukunft weiterhin nur ein geringes Inflationsrisiko.
Aber langfristiger gesehen gibt es keine Garantie, dass die Zentralbanken angesichts negativer Schocks wie dem anhaltend schwachen Produktivitätswachstum, der hohen Schuldenquoten oder des Drucks zur Reduzierung von Ungleichheit durch Sozialtransfers ihre Linie beibehalten können. Insbesondere das Eintreten anderer großer Schocks – wie eine allgemeine weltweite Steigerung der Realzinssätze – würde das Risiko erhöhen.
Die Erkenntnis, dass die Inflation nur schläft, widerlegt die oft zitierte Behauptung, dass kein Land, das über flexible Wechselkurse verfügt, Angst vor den Folgen hoher Schulden haben müsse, so lange diese Schulden in der eigenen Währung ausgegeben wurden. Stellen wir uns noch einmal vor, Italien hätte statt des Euro seine eigene Währung. Sicherlich müsste das Land vor einem kurzfristigen Schuldencrash deutlich weniger Angst haben. Aber angesichts der andauernden großen Regierungsprobleme in Italien läge die Inflationsrate dort, getrieben durch die Schuldenprobleme, mit aller Wahrscheinlichkeit eher im Bereich von Brasilien oder der Türkei.
Die modernen Zentralbanken haben bei der Senkung der Inflation Wunder bewirkt. Letztlich können ihre inflationsbekämpfenden Maßnahmen allerdings nur innerhalb eines makroökonomischen und politischen Rahmens funktionieren, der mit der Preisstabilität in Einklang steht. Die Inflation schläft vielleicht, ist aber mit Sicherheit nicht tot.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
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