Peter Wippermann hat die Trendforschungsagentur Trendbüro gegründet und war bis 2015 Professor für Kommunikationsdesign an der Folkwang Universität der Künste in Essen. Mit dem Trendbüro untersucht er gesellschaftliche Entwicklungen und ihre Auswirkungen und berät Unternehmen.
Viele Menschen arbeiten aus dem Homeoffice, wir fliegen weniger oder gar nicht mehr, wir pflegen soziale Distanz. Welche dieser Veränderungen aus der Corona-Zeit werden uns auch nach der Krise weiter begleiten?
Das kann man sicherlich mit einem Satz zusammenfassen: Das Öffentliche wird privat und das Private wird öffentlich. Der Staat legt die Regeln fest, wie wir uns verhalten sollen. Im Privaten, das nun öffentlich wird, entstehen neue Geschäftsfelder wie biometrische Identifizierungen, Veränderungen an den Flughäfen, neue Zugangsberechtigungen. Dann sind wir plötzlich im Bereich der Persönlichkeitsrechte. Das hat eine Geschwindigkeit erreicht, die wir auch im nächsten Jahr noch weiter spüren werden.
Das heißt, es wird eine stärkere Kontrolle seitens des Staates geben?
Der Lockdown ist das Plakativste daran . Wenn man schaut, was sich zum Beispiel im Tourismus verändert hat, dann kann man das mit den Folgen der Terrorismuswelle vergleichen. Die hat dazu geführt, dass jeder Passagier erst einmal nachweisen muss, dass er nicht kriminell ist. Wenn man das auf die momentane Situation überträgt, müssen Passagiere erst einmal nachweisen, dass sie gesund sind – ob nun mit Schnelltests oder mit einer Impfpflicht bei bestimmten Fluglinien. Das hat sehr direkte Einflüsse auf jeden persönlich. Bisher sind berührungslose Technologien und biometrische Gesichtserfassung auf Widerstand gestoßen. Nun sieht man, dass Frankreich und die USA unter Corona-Bedingungen „biometric boarding“ einführen und auch an Gesichtserkennung mit Masken arbeiten. Auf Mallorca wird am Flughafen die Temperatur von Einreisenden gemessen. All das sind Veränderungen im Tourismus, die bleiben werden. Das kann sich schnell weiterentwickeln in die Bereiche der Großbüroflächen und des Handels. Das ist eine Entwicklung, die auf jeden Fall nicht wieder verschwinden wird.
Wäre diese Entwicklung in dieser Form auch ohne die Corona-Pandemie möglich gewesen?
Technisch ist das natürlich überhaupt nichts Neues, aber die gesellschaftliche Akzeptanz ist neu: Die Kontrolle nimmt zu – und die Akzeptanz dieser Kontrolle unter dem Aspekt der Gesundheit wäre früher nicht denkbar gewesen. Jetzt ist es Voraussetzung, um bestimmte Dinge noch tun zu können.
Wenn die Bevölkerung geimpft und Corona irgendwann wieder unter Kontrolle ist – werden wir dann überhaupt wieder zu dem Zustand vor der Pandemie zurückkehren können und wollen?
Nein, das ist sicher nicht mehr möglich. Die Veränderungen sind in der jetzigen Situation gesellschaftlich akzeptiert, sie sind technisch machbar und ökonomisch sinnvoll. Schaut man sich den volkswirtschaftlichen Schaden durch eine Pandemie an, dann macht es ökonomisch Sinn, das Thema Gesundheit plötzlich als Wirtschaftsfaktor zu sehen.
Vieles ist gerade eingeschränkt oder gar nicht möglich – wie Reisen und Großveranstaltungen. Könnte es nicht sein, dass die Menschen sich besonders danach sehnen und dann doch alles schnell wieder wird wie vor der Pandemie?
Ich glaube, dass das reale Erleben immer kostbarer und aufwendiger wird. Das Eine ist die Sehnsucht, die die Menschen haben. Das Andere ist die Veränderung in der Gesellschaft, die mehrheitlich als notweniges Übel akzeptiert wird. Wichtig ist auch: Das Zuhause ist ein echtes Headquarter geworden – für Fitness, Arbeit, Shopping. Das wird nicht wieder verschwinden.
Auch die Arbeitswelt hat sich durch die Pandemie stark verändert. Welche Veränderungen werden uns in diesem Bereich über die Corona-Zeit hinaus begleiten?
Es wird eine hybride Arbeitswelt geben. Das Büro wird nicht verschwinden, aber es wird einen neuen Stellenwert bekommen. Eine hybride Arbeitswelt macht ökonomisch Sinn und wird auch von denjenigen, die in der Distanzarbeitswelt arbeiten können, durchaus begrüßt. Es ist nicht neu, dass viele Menschen auch von unterwegs arbeiten, aber neu ist, dass es nun auch einen gesellschaftlichen Rahmen und eine juristische Grundlage bekommen wird. Zudem wird es sich technologisch entwickeln, dass viele Arbeitsfelder durch Künstliche Intelligenz, schnellere Rechner und bessere Übertragungsstandards als 5G ebenfalls zu hybriden Arbeitswelten werden. Ein Beispiel: In China wird Tagebau aus dem Büro gemacht. Die Menschen steuern Bagger und LKW mit einem Joystick. Im Moment gibt es noch eine Trennung zwischen denjenigen, die am Computer arbeiten und denjenigen, die vor Ort arbeiten. Das wird in großen Teilen verschwinden.
Nicht nur für die Unternehmen, sondern auch für Konsumenten hat sich durch die Pandemie etwas verändert. In Ihrem Werteindex haben sie herausgefunden, dass Konsumenten Unternehmen zunehmend fragen, wozu diese auch in sozialen und politischen Belangen beitragen, wo diese wirklich einen Mehrwert bieten. Woher kommt das?
Die Pandemie ist nicht das Einzige, das wir zu bewerkstelligen haben, sondern wir müssen auch den Klimawandel bewältigen. Die Bevölkerung möchte einen Wandel. Unternehmen mit Vorstellungen von einer besseren Gesellschaft oder von Konfliktlösungen in den Bereichen Gesundheit, Klimawandel oder Spaltung der Gesellschaft werden sehr positiv beurteilt. Das, was wir in den letzten Jahren unter dem Namen digitale Transformation diskutiert haben, ist plötzlich eine kulturelle Transformation. Der Profitgedanke steht nicht mehr allein im Vordergrund.
Woher kommt es, dass den Menschen gerade in einer Krise diese Werte wichtig sind?
In Deutschland sind etwa 50 Prozent der Meinung, die Gesellschaft solle sich ändern – und 50 Prozent sind der Meinung, dass wir einfach in die Zeit vor Corona zurückkehren sollten. Die Jüngeren haben angefangen, Fragen an ihre Eltern zu stellen – zum Thema Klimawandel, zum Thema Ernährung. Sie schieben die Gesellschaft voran und die Krise beschleunigt das. Sie suchen nach Lösungsmöglichkeiten: Wenn ihnen ein Unternehmen suggeriert, dass es ein positiver Teil der Entwicklung ist, sind sie bereit, hier auch zu konsumieren. In der Krise hat man zwei Möglichkeiten: Angst haben und sich zurückziehen oder schauen, was man in dieser Situation tun kann und nach vorne gehen. Und wir kommen aus einer Zeit, in der alternative Fakten, Fakenews und Ähnliches die Gesellschaft schockiert haben, sodass sie die Orientierung verloren hat. Das Thema Nachhaltigkeit ist eine zuverlässige Perspektive, um wieder geradeaus denken und gehen zu können.
Ein weiteres Ergebnis Ihres Werteindizes war, dass die Freiheit und Transparenz im Frühjahr an Bedeutung gewonnen haben. Woher kommt dieser Wertewandel?
Das ist eine Reaktion darauf, dass unsere Freiheit auf einmal nicht mehr selbstverständlich ist. In dem Moment, in dem wir gesellschaftlich gezwungen werden, uns vernünftig zu verhalten und die Wohnung nicht zu verlassen, hat das Nachdenken über Freiheit enorm zugenommen. Das Interessante ist, dass dieser Freiheitsdrang aus der physischen in die virtuelle Welt dringt. Leben, Arbeit und Einkaufen in der digitalen Welt wird plötzlich als Freiheit empfunden. Dass Transparenz an Bedeutung gewonnen hat, hat ganz klar mit der Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft und mit widersprüchlichen Informationen zu tun. Die Orientierungslosigkeit durch soziale Netzwerke hat enorm zugenommen.
Wie könnte eine Welt nach Corona aussehen?
Ich glaube, dass die Gesellschaft sehr viel stärker einen starken Staat akzeptiert und Entlastung sucht für grundlegende Entscheidungen. Das war viele Jahre lang undenkbar. Das ist natürlich nicht für alle zu akzeptieren, aber die Mehrheit ist der Meinung, dass sich die Demokratie in der Corona-Phase zumindest bis zum Sommer bewährt hat. Es gibt eine positive Bestätigung der Rahmenbedingungen, die von der Politik kommen. In den Bereichen, in denen die Freiheit in den virtuellen Raum geht, müssen Firmen dahin folgen – ob es um die Arbeitswelt, Shopping oder Entertainment geht. Sicherlich wird es Ende des nächsten Jahres die Rückkehr von Live-Events geben, die sehr viel kostbarer sein werden als in der Vergangenheit. Fliegen war früher sehr exklusiv und teuer und ist über die Jahrzehnte verramscht worden. Das lässt sich in vielen Bereichen nachvollziehen und wird jetzt aufhören. Sie werden ein echtes Entertainment in der psychischen Welt goutieren, aber es wird ein Upgrade geben.
Sie haben gesagt, dass es den Wunsch nach einem starken Staat gibt – gleichzeitig hat Freiheit einen hohen Stellenwert. Wie passt das zusammen?
Wenn Gesundheit ein K.O.-Kriterium für die Gesellschaft, die Wirtschaft und jeden einzelnen ist, dann suchen wir in diesem Bereich klare Regeln, die nur der Staat geben kann. Freiheit ist in der virtuellen Welt ganz einfach zu realisieren. Deshalb verändert sich die Akzeptanz virtueller Welten. Da stehen wir noch ganz am Anfang. Die virtuelle Freiheit ist der Ausgleich zur Regelstärke, die wir in der physischen Welt begrüßen.
Welche positiven Dinge haben sich durch die Pandemie entwickelt, die wir im Nachhinein vielleicht nicht mehr missen wollen?
Wir können extrem bequem einkaufen mit Lieferungen innerhalb einer Stunde, was früher undenkbar war. Wir werden fokussierter sein auf die eigenen Räume oder die Räume, die wir mit anderen gemeinsam nutzen. Wir werden zeiteffizienter sein. Auf der einen Seite haben wir eine Phase der kompletten Entschleunigung, können nicht verreisen und sind mehr in der Wohnung. Auf der anderen Seite haben wir eine Turbo-Beschleunigung gewisser Prozesse. Aber in der Gesellschaft gibt es eine Teilung: Die, die in der Lage sind, das Digitale zu nutzen, sind die absoluten Gewinner. Aber es gibt auch Teile der Gesellschaft, die sich einfach weigern, die digitale Welt ernst zu nehmen. Wenn man in die Schulen schaut, sieht man: Es wurden keine vernünftigen digitalen Angebote gemacht, keine Lehrpläne für Distanz- und Selbstlernen entwickelt, wenig Computer während der Pandemie gekauft. Hier geht es um die zukünftigen Arbeitnehmer. Da wundert es einen schon, dass ein Land so etwas zulässt.