Dirk Elsner berät als Consultant für die Innovecs GmbH Banken und Unternehmen. Zu seinen Schwerpunkten gehören Veränderungen der Finanzwirtschaft, der Unternehmenspraxis und digitale Finanzdienstleistungen. 2008 hat er das private Wirtschaftsblog Blick Log gegründet, das mehrfach ausgezeichnet wurde. Ab sofort schreibt Elsner alle zwei Wochen eine Kolumne auf Capital.de. Der Titel ist Programm: Finanzevolution
Evolution steht für die allmähliche Entwicklung eines “Systems” mit „Gedächtnis“, das heißt eines Systems, das auf äußere Einflüsse reagiert, und zwar abhängig von den in der Vergangenheit gesammelten Erfahrungen. Ich mag den Vergleich der Entwicklung der Finanzmärkte mit der Biologie insbesondere aus zwei Gründen.
Erstens lernen wir aus der Evolutionsbiologie, dass man zwar im Nachhinein gut erklären kann, warum sich eine bestimmte Lebensform durchgesetzt hat. Es lässt sich aber nicht prognostizieren, welche der unterschiedlichen Lebensformen in ihren jeweiligen Umgebungen bestehen werden.
Zweitens reicht es nicht aus, nur auf große Zusammenhänge zu schauen. Manchmal suchen Biologen in Ameisenhügeln und versteinerten Fossilien nach Details von Entwicklungslinien. Ähnlich ist es im Finanzbereich. Hier genügt es nicht auf die Verfehlungen und Versäumnisse von Banken vor und nach der Finanzkrise zu schauen, um daraus Rückschlüsse für die künftigen Entwicklungen zu erhalten. Genauso wenig reicht es, auf den diffusen Begriff des digitalen Wandels zu verweisen, den die Banken nun endlich mitmachen sollen. Manchmal muss man sich Entwicklungen im Detail anschauen, um zu begreifen, wie die Evolution im Finanzsektor abläuft.
Diese Evolution des Finanzsektors, die keineswegs auf Banken beschränkt ist, wird Gegenstand dieser Kolumne sein. Evolution bedeutet nicht, dass der stärkste überlebt, wie Darwin oft fälschlicherweise interpretiert wird. Evolution beginnt nach Darwin mit Variationen der Arten. Einige Arten werden bei einer Änderung der Umweltbedingungen begünstigt, andere sterben aus. Begünstigt wird dabei die Organisation, die am besten an die jeweilige Umweltsituation angepasst ist.
Digitalisierung hat Finanzwelt längst erreicht
Über den Jahreswechsel las ich Jeremy Rifkins “Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft: Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus”. Rifkin skizziert in einer Retrospektive die industriellen Revolutionen und fasziniert sich selbst an den Produktivitätsfortschritten verschiedener Industriezweige. Enorme Produktivitätsgewinne gingen meist einher mit großen Entwicklungen, wie den Druck, die Dampfmaschine oder die Kommunikationstechnik. Rifkin begeistert sich über die Fortschritte in vielen technischen Sektoren, wie zum Beispiel den regenerativen Energien, der Computertechnik oder dem 3-D-Druck und zeigt wie diese Entwicklungen ganze Industrien verändern.
Auch wenn ich Rifkins Sozialutopie einer schrittweisen Ablösung der Marktwirtschaft durch die Commons nicht teile und sein Buch auf mich zu sehr als technikverliebte Digitalromantik wirkt, erhält man eine kompakte Zusammenfassung der großen Umwälzungen der Industriegeschichte und ihre Einbindung in ökonomische Paradigmen. Leider findet der Finanzsektor in Rifkins Buch so gut wie gar nicht statt. Er greift zwar oberflächlich einige der neuen Finanzinstrumente wie P2P-Finanzierung auf, sieht diese aber nur im Sinne seines gesellschaftlichen Entwurfs.
Wir wissen aber längst, dass der digitale Wandel die Finanzwelt erreicht hat. Wir sehen hier weltweit tausende Start-ups und etablierte Unternehmen mit unglaublich vielen Ansätzen, das Leistungsspektrum im Finanzbereich zu erweitern und zu verändern. Für meinen Blog habe ich bereits vor einigen Jahren eine Mindmap begonnen mit den neuen Ansätzen im Digital Finance. Was vor vier Jahren noch in eine Übersicht passte, kann ich heute nicht einmal mehr in vier Mindmaps pressen, so vielfältig sind die Variationen, die für nahezu alle Geschäftsfelder der Finanzbranche zu beobachten sind.
Keine Veränderungsdynamik
Dennoch dürfen die zum Teil faszinierenden Entwicklungen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich im Tagesgeschäft des Finanzsektors, verglichen mit anderen Industriezweigen, bisher nicht besonders viele Änderungen durchgesetzt haben. Die Rifkinsche Veränderungsdynamik hat den Finanzsektor bisher nicht wirklich erreicht. Manche Online-Interfaces von Banken wirken noch genauso modern wie vor zehn Jahren. Trotz SEPA benötigen Zahlungen in Europa noch eine gefühlte Ewigkeit bis sie den Empfänger erreichen. Und die von Rifkin geforderte Transparenz über Leistungen und Kosten wird nicht freiwillig, sondern nur über regulatorischen Druck umgesetzt.
Längst nicht alle Ansätze setzen sich am Markt durch und werden akzeptiert. So warten wir bereits seit mehr als zehn Jahren auf einen Durchbruch beim mobilen Bezahlen, früher per SMS, heute mit intelligenten Smartphone-Apps. Telekommunikationsunternehmen, Internetkonzerne und Start-ups investieren Milliarden, um die Menschen vom Bargeld und von der kartengestützten Zahlung wegzulocken. Gelungen ist das bisher nicht.
Ein wichtiges Kernelement in Rifkins dritter industrieller Revolution ist die vernetzte Dezentralisierung von Leistungen und die schrittweise Ausweitung der Commons auf immer mehr Wirtschaftsbereiche. Auch hier sehen wir bisher wenige Wirkungen im Finanzsektor. Die Finanzkrise und die regulatorischen Lasten scheinen einerseits den Trend zu noch größeren Einheiten zu fördern. Dennoch zeigen Entwicklungen wie Peer-to-Peer-Kredite und das in Deutschland wegen der ersten größeren Schieflagen unter Beschuss geratene Crowdfunding im Finanzierungsbereich und Social Advisory bei der Kapitalanlage (also die Beratung oder Erfahrungsaustausch der Kunden untereinander), dass auch im Finanz- und Anlagebereich neue Wege gesucht werden.
Umwälzungen stehen bevor
Und mit dem Bitcoin-Konzept (ich meine damit nicht die Kryptowährung, sondern die verwendete und für viele andere Anwendungen geeignete Technologie) klopft bereits eine Idee an die Stahltüren der Finanzkonzerne, die in der Lage ist, die Subkulturen aus Banken und Abwicklungsdienstleister im Finanzsektor kräftig durchzuschütteln.
In meiner letzten Kolumne für das Wall Street Journal hatte ich festgestellt, dass trotz des verhaltenen Interesses der Kreditwirtschaft der digitale Wandel der Bankgeschäftsmodelle begonnen hat. Daraus entstehen viele Fragen: Wie verändert das die Finanzwelt vor und hinter den Kulissen, wie wirken Finanzmarktregeln auf die Dynamik neuer Produkte und Anbieter, wie weit sind die Bankkunden bereit, sich für bequemere und bessere Produkte auf neue unbekannte Unternehmen einzulassen? Und wie verändern gesellschaftliche Trends, wie etwa die Ansprüche nach mehr Nachhaltigkeit, das Denken in der Branche und der Kunden? Auf die aufregende Reise zu Antworten auf diese Fragen und vielen weitere Entwicklungen will ich Sie in dieser Kolumne mitnehmen.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, liebe Leser, einen guten Start in das neue Jahr.
Weitere Kolumnen von Dirk Elsner, die er für die inzwischen eingestellte deutsche Ausgabe des „Wall Street Journal“ geschrieben hat, finden Sie auf seiner Übersichtsseite