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Kolumne Die chinesisch-russische Ehe

Die Idee Eurasiens ist im Kommen. Die Politik des Westens hat Russland und China in diese Ehe gezwungen. Von Robert Skidelsky
Robert Skidelsky
Robert Skidelsky
© Getty Images


Robert Skidelsky ist Mitglied des britischen Oberhauses und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Warwick.

Die Chinesen sind ein besonders historisch denkendes Volks. Bei seiner Machteroberung setzte Mao Zedong Militärtaktiken Sun Tzus ein, der etwa 500 vor Christus lebte; der Konfuzianismus, der etwa aus derselben Zeit stammt, steht Maos brutalen Unterdrückungsversuchen zum Trotz weiter im Kern des sozialen Denkens in China. Deshalb hätte niemand bei der Vorstellung von Präsident Xi Jinpings Initiative einer „neuen Seidenstraße“ 2013 von dem historischen Bezug überrascht sein dürfen. „Vor mehr als zwei Jahrtausenden“, erläutert Chinas Nationale Entwicklungs- und Reformkommission, „erkundeten und erschlossen die fleißigen und mutigen Menschen Eurasiens mehrere Routen für den Handel und den kulturellen Austausch, die die bedeutenden Kulturen Asiens, Europas und Afrikas miteinander verbanden. Von späteren Generationen wurden diese in ihrer Gesamtheit als die ‚Seidenstraße‘ bezeichnet.“ In China greift man oft auf die längst vergangene Geschichte zurück, um die Einführung einer neuen Doktrin zu unterstützen. Die neue Doktrin hier lautet „Multipolarität“ – die Idee, dass die Welt aus mehreren klar unterscheidbaren Anziehungspolen besteht (oder bestehen sollte). Das Gegenstück hierzu ist eine „unipolare“ (das heißt, von den USA oder dem Westen beherrschte) Welt. Multipolarität ist eine politische Idee, doch es geht dabei um mehr als um Machtbeziehungen. Sie verwirft die Vorstellung eines einzigen zivilisatorischen Ideals, dem alle Länder entsprechen sollten. Unterschiedliche Weltregionen hätten eine jeweils unterschiedliche Geschichte, die ihren Völkern unterschiedliche Vorstellungen davon vermittelt habe, wie man lebt, regiert und sich seinen Lebensunterhalt verdient. Diese unterschiedlichen Ausformungen von Geschichte gelte es zu respektieren: Es gebe nicht nur einen einzigen „richtigen“ Weg in die Zukunft.

Eurasien erwacht aus seinem Dornröschenschlaf


Die Zeit für die Idee eines Eurasiens sei wieder einmal gekommen, so heißt es. Neue historische Forschungen haben die alte Seidenstraße aus der Vergessenheit befreit. Die verstorbene US-Soziologin Janet Abu-Lughod hat acht einander überschneidende „Handelskreisläufe“ zwischen dem nordwestlichen Europa und China ausgemacht, die unter der Ägide der Pax Mongolica zwischen dem 13. und 14. Jahrhundert florierten. Laut Abu-Lughod überlagerte der westliche Imperialismus diese älteren Kreisläufe, ohne sie freilich auszulöschen. Der Islam verbreitete sich weiter über geografische und politische Grenzen hinweg. Die chinesischen und indischen Migrationsbewegungen hörten nicht auf. Und jetzt hat ein einzigartiges Zusammentreffen wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen die Gelegenheit für das Erwachen Eurasiens aus seinem historischen Dornröschenschlaf hervorgebracht. Das westliche Selbstbewusstsein ist durch die Finanzkrise von 2008/2009 und die politischen Katastrophen im Nahen Osten der letzten Jahre angeschlagen. Zugleich scheinen sich die Interessen zweier potenzieller Erbauer Eurasiens, Chinas und Russlands, zumindest oberflächlich betrachtet anzunähern. Chinas Motiv für die Wiederbelebung der Pax Mongolica ist klar. Seinem überwiegend auf dem Export billiger Fertigwaren in die entwickelten Länder basierendem Wachstumsmodell geht die Luft aus. Im Westen droht eine säkulare Stagnation, begleitet von einer zunehmend protektionistischen Stimmung. Und obwohl die chinesische Führung weiß, dass sie ihre Wirtschaft neu – von Investitionen und Export hin zum Konsum – ausrichten muss: Die herrschende kommunistische Partei läuft damit Gefahr ernster innenpolitischer Probleme. Investitionen und Export in Richtung Eurasien umzuleiten bietet eine Alternative.

Begehrte Absatzmärkte


Angesichts steigender Arbeitskosten in China verlagert sich die Produktion von den Küstenregionen in die westlichen Provinzen. Das natürliche Absatzgebiet für diese Produktion verläuft entlang der neuen Seidenstraße. Die Entwicklung dieser Straße (in Wahrheit handelt es sich um mehrere „Gürtel“, darunter eine südliche maritime Route) wird enorme Investitionen in die Verkehrs- und Stadtinfrastruktur erfordern. Wie im 19. Jahrhundert wird die Senkung der Transportkosten neue Handelsmärkte erschließen. Auch Russland hat ein Wirtschaftsmotiv für die Entwicklung Eurasiens. Das Land hat es versäumt, seine Wirtschaft zu modernisieren und zu diversifizieren. Daher bleibt es in erster Linie ein Exporteur von Mineralölprodukten und ein Importeur von Fertigwaren. China bietet einen sicheren und expandierenden Markt für russische Energieexporte. Die großen Verkehrs- und Bauprojekte, die zur Realisierung des wirtschaftlichen Potenzials Eurasiens erforderlich sind, könnten Russland helfen, die industrielle und technologische Macht zurückzugewinnen, die es mit dem Fall des Kommunismus verloren hat. In diesem Jahr haben sich Russland, Armenien, Weißrussland, Kasachstan und Kirgisistan zur Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU) zusammengeschlossen, einer Zollunion mit Verteidigungskomponente. Die EAWU wird von ihren Befürwortern als ein Schritt zur Wiederherstellung der alten sowjetischen Grenzen in der Form einer freiwilligen wirtschaftlichen und politischen Union angesehen, die auf dem Modell der EU aufbaut – ein Projekt, das dem „Sieg“ des Westens im Kalten Krieg den Stachel nehmen soll. Die offizielle russische Meinung erwartet „die Interpenetration und Integration der EAWU und des Wirtschaftsgürtels der Seidenstraße“ zu einem „Groß-Eurasien“, das „eine sich stetig entwickelnde, sichere gemeinsame Nachbarschaft Russlands und Chinas“ hervorbringen wird. Am 8. Mai haben Putin und Xi in Moskau eine Vereinbarung unterzeichnet, die die Schaffung von politischen Koordinierungseinrichtungen, Anlagefonds, Entwicklungsbanken sowie Währungs- und Finanzsystemen vorsieht. Sie alle sollen eine enorme Freihandelszone bedienen, die China mit Europa, dem Nahen Osten und Afrika verbindet.

Der Westen schweißt China und Russland zusammen


Wie realistisch ist dieser Traum? Russland und China fühlen sich beide von den USA und ihren Verbündeten „eingekreist“. Chinas nahezu unverständlich verklausuliertes antihegemoniales Ziel sind die Sicherung der „Toleranz zwischen den Kulturen“ und der Respekt für die „von den unterschiedlichen Ländern gewählten Entwicklungsmodi“. Putin seinerseits hat seine sehr viel explizitere antiamerikanische Rhetorik seit der Ukraine-Krise verstärkt, die er als Paradebeispiel für die westliche Einmischung in die innenpolitischen Angelegenheiten Russlands betrachtet. Der Ausbau der Handelsfbeziehungen zwischen Russland und China und die verstärkte Koordinierung in Politik- und Sicherheitsfragen werden die Anfälligkeit beider Länder gegenüber äußerer Einmischung verringern und das Entstehen eines neuen Zentrums globaler Macht signalisieren. Man kann es als einzigartigen Erfolg westlicher Staatskunst betrachten, diese beiden alten Rivalen um Macht und Einfluss in Zentralasien an einen Punkt gebracht zu haben, wo sie den Westen gemeinsam von der künftigen Entwicklung der Region auszuschließen suchen. Vor allem die USA haben die Chancen zur Integration beider Länder in ein geeintes globales System verpasst, indem sie sich einer Reform des Internationalen Währungsfonds verweigert haben, die Chinas Einfluss auf dessen Entscheidungsfindung gestärkt hätte. Außerdem wurden Russlands Bestrebungen um eine Mitgliedschaft in der Nato zurückgewiesen. Das hat beide Länder dazu geführt, sich um eine Alternative in der Gesellschaft des jeweils anderen zu bemühen. Ob diese Vernunftehe zu einer dauerhaften Verbindung – oder, wie George Soros vorhersagt, einer Bedrohung für den Weltfrieden – führen wird, bleibt abzuwarten. Es gibt ein offensichtliches Einflusssphärenproblem in Kasachstan, und die Chinesen haben die Russen in den bilateralen Übereinkünften zwischen beiden Ländern gehörig ausgepresst. Für den Augenblick freilich erscheint der Zank über die neue Seidenstraße beiden Mächten als weniger schmerzhaft als die dauernden Belehrungen aus dem Westen. Aus dem Englischen von Jan Doolan Copyright: Project Syndicate, 2015. 
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