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Gastkommentar Die abgekoppelte Elite

Die Spitze der Gesellschaft sondert sich ab vom unteren Rand - das ist ein gefährlicher Trend in allen Machtzentren des Westens. Von Peggy Noonan

Peggy Noonan ist Autorin und Kolumnistin des Wall Street Journal. Sie war Redenschreiberin von Ronald Reagan und seinem Vizepräsidenten George H.W. Bush.

In diesem Artikel geht es um Distanz und Distanzierung. Um eine Form der historischen Entkopplung zwischen Oben und Unten innerhalb des Westens, die es in gemäßigteren jüngeren Zeiten nicht gab.

Ich habe neulich mit einem Bekannten von Angela Merkel gesprochen, der deutschen Bundeskanzlerin, und das Gespräch wandte sich - wie das bei Gesprächen über Frau Merkel heute immer so ist - sehr schnell ihren Entscheidungen in der Einwanderungspolitik zu. Mehr als eine Million Menschen sind im vergangenen Jahr nach Deutschland gekommen, und das Ergebnis ist eine verbreitete öffentliche Empörung über Kriminalität, kulturelle Spaltung und Terrorangst.

Bei einer so robusten und bodenständigen Persönlichkeit wie Angela Merkel wirkte ihr Verhalten rätselhaft - getrieben von einem untypisch romantischen Bild von Menschen und ihrer Art zu leben, ja von der ganzen Weltgeschichte, die eher ein Schlachthaus als ein Siedlerhaus ist.

Merkels Bekannter seufzte und stimmte zu: Es ist das Eine, von unerwarteten Kräften überwältigt zu werden. Etwas ganz Anderes, zur Invasion einzuladen! Aber er glaube, so der Bekannte, dass die Kanzlerin idealistisch handele. Als Tochter eines Pfarrers, aufgewachsen in Ostdeutschland, habe sie wohl eine natürliche Sympathie für all jene, die sich an den Rand gedrängt und vertrieben fühlen. Zudem versuche sie eine Art Gegen-Zeichen des 21. Jahrhunderts zu der großen Sünde Deutschlands im 20. Jahrhundert zu setzen. Auf die historische Schande des Nazismus, die Ermordung und Misshandlung der Minderheit, folgt nun der moralische Triumph offener Arme für die Entrechteten. Das stecke dahinter, sagte der Bekannte.

Ich habe noch keine bessere Erklärung gehört. Aber es steckt ein fundamentales Problem darin, das in der einen oder anderen Form heute im ganzen Westen Wellen schlägt: Frau Merkel hat die gesamte Last eines gewaltigen kulturellen Wandels nicht sich selbst und Ihresgleichen aufgeladen. Sondern normalen Leuten, die eher am Rand leben, die nicht die notwendigen Ressourcen haben, um die Last zu tragen. Die keinen besonderen Schutz genießen, die weder Geld noch Beziehungen haben. Frau Merkel, ihr Kabinett und ihre Regierung, die Medien und der Kulturapparat, der ihre Entscheidung lobte, waren von der Entscheidung nicht im Geringsten betroffen und werden wahrscheinlich auch nie davon betroffen sein.

Die Unbeschützten

Nichts in ihrem Leben wird schlechter werden. Die Herausforderung, verschiedene Kulturen zu integrieren, über täglichen Reibungspunkte zu verhandeln, mit Kriminalität, Extremismus und Angst auf der Straße klar zu kommen - all das wurde jenen aufgeladen, die relativ wenig haben. Jenen, die ich in anderem Zusammenhang die Unbeschützten genannt habe. Sie lässt man rackern. Nicht schrittweise und im Laufe der Jahre, sondern plötzlich und in einer Atmosphäre von Krise, die keinerlei Anzeichen eines Endes erkennen lässt. Denn niemandem sind die Unbeschützten wichtig genug, um die Entwicklung zu stoppen.

Die Mächtigen lassen nicht erkennen, dass sie sich darüber viele Gedanken machen. Wenn die Arbeiterschaft und die Mittelschicht in schockiert und empört aufbegehren, dann werden sie von denen an der Spitze als “xenophob”, “engstirnig”, “rassistisch” bezeichnet. Die Abgekoppelten, die entschieden haben und keinerlei Kosten tragen, dürfen sich “humanistisch”, “mitfühlend” und “Held der Menschenrechte” nennen. (...)

Der größere Punkt dahinter ist, dass wir überall ähnliche Dinge sehen. Die Spitze der Gesellschaft sondert sich ab vom unteren Rand, empfindet wenig Loyalität oder Verbindung zu ihm. Ich sehe darin ein wiederkehrendes Motiv in allen Machtzentren des Westens. Im Kern findet hier nicht nur eine Ablösung statt. Es gibt ein Desinteresse am Leben der Landsleute, an jenen, die nicht mit am Tisch sitzen und die verstehen, dass sie vom Egoismus und von den verrückten Tugendsignalen ihrer Führer aufgegeben worden sind.

An der Wall Street wurden früher Staatsmänner gemacht. Heute produziert man dort nur noch so gerade eben Staatsbürger. Das Denken der US-CEOs kreist nur noch um die kurze Frist, um Aktienkurse und Quartalsgewinne. Die CEOs glauben nicht wirklich, dass sie heute irgendetwas mit "America" zu tun haben müssen. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, global zu denken und Aktionärserwartungen zu erfüllen.

Im Silicon Valley wird über die Idee eines "nationalen Interesses" nicht viel diskutiert. Dort bekennt man sich zu höheren, abstrakteren, globaleren Werten. Es geht nicht um Amerika, es geht... nun ja, ich nehme an, sie würden sagen: die Zukunft.

In Hollywood schützen die Reichen ihre eigenen Kinder vor dem kulturellen Verfall, vor den kranken Bildern, die sie für die verschiedenen Screens produzieren. Aber es ist ihnen egal, wenn arme, unbetreute Kinder aus zerfallenen Familien diese Botschaften auffangen und dann irgendwann danach handeln.

Nach dem, was ich bei den Mächtigen der amerikanischen Wirtschaft und Politik inzwischen gesehen habe, sind die Leute in ihrem Land nicht mehr ihre Landsleute. Es sind Aliens, deren bizarre Emotionen man gelegentlich zu antizipieren und zu managen versuchen muss.

Die große Trennung

In Manhattan, meiner kleinen Insel vor dem amerikanischen Kontinent, sehe ich, wie die Kinder der globalen Business-Elite untereinander heiraten und sich dann in London oder New York oder Mumbai ansiedeln. Sie schicken ihre Kinder auf dieselben Schulen und sie achten aufmerksam auf alle Zeichen der Klassenzugehörigkeit. Und diese Eliten, in Mumbai und Manhattan, identifizieren sich nicht oft mit den rackernden Leuten, die am unteren Rand ihres Landes leben. Sie sehen keine Verbindung zu ihnen, keine Verpflichtung ihnen gegenüber. Ja, sie fürchten sie und entwickeln zuhause oft besondere Methoden, damit man ihren Reichtum und ihren irdischen Erfolg nicht ganz bemerkt.

Überfluss führt zur Entkopplung, Macht sorgt dafür, dass die Kluft zwischen den unterschiedlichen Erfahrungen noch größer wird. Ich habe das selbst noch nicht ganz klar in meinem Kopf, doch es passiert etwas Großes hier, durch die Trennung zwischen Führern und Geführten. Es ist ein herausragendes Kennzeichen unserer Zeit. Aber es ist seltsam, dass die Eliten die Vorstellung aufgegeben haben oder gerade aufgeben, dass sie zu einem Land gehören. Dass sie Verbindungen haben, aus denen sich Verpflichtungen ergeben. Dass sie gegenüber ihren Landsleuten Loyalitäten spüren sollten. Oder zumindest einen fundierten Respekt.

Ich schließe mit einer Geschichte, die ich kürzlich in den US-Medien gesehen habe. Peter Hasson von Daily Caller berichtete, dass die neu angekommenen Flüchtlinge aus Syrien, die im Bundesstaat Virginia angesiedelt werden sollen, in die ärmsten Gemeinden des Staats geschickt wurden. Zahlen des US-Außenministeriums zeigen, dass fast alle Flüchtlinge in Virginia seit dem vergangenen Oktober "in Orten mit niedrigeren Einkommen und höherer Armutsrate angesiedelt wurden, Stunden weit weg von den reichen Vororten von Washington, D.C." Von 121 Flüchtlingen wurden 112 in Gemeinden geschickt, die mindestens 100 Meilen von der Hauptstadt entfernt sind. Washingtons Vorort-Bezirke Fairfax, Loudoun und Arlington—die zu reichsten der Nation zählen und in denen es eine hohe Konzentration von Medien- und Regierungsleuten gibt—haben nur neun Flüchtlinge aufgenommen.

Ein Teil der zu beobachtenden Absonderung ist keineswegs unbewusst. Ein Teil ist schierer und cleverer Selbstschutz. Zumindest in einigen Punkten weiß die Spitze schon für Ihresgleichen zu sorgen.

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