Jeffrey D. Sachs ist Professor für nachhaltige Entwicklung, Professor für Gesundheitspolitik und Gesundheitsmanagement sowie Direktor des Earth Institute der Columbia University
Auch wenn die Augen der Welt derzeit auf das Referendum in Schottland über dessen Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich gerichtet sind: Nicht allein die Schotten wollen die nationalen Grenzen neu ziehen. Auch in vielen anderen Teilen der Welt gibt es Unabhängigkeitsbewegungen; tatsächlich sind seit 1980 39 neue Staaten den Vereinten Nationen beigetreten. Viele weitere Anwärter warten nur auf ihre Gelegenheit und dürften sich durch ein schottisches „Yes“ ermutigt fühlen.
Die Kampagne für die Unabhängigkeit Schottlands beruht auf vier Ansprüchen. Der erste ist kulturell: die Identität des schottischen Volkes zu schützen und stärken. Der zweite ist ideologisch: Schottland zu einer sozialen Demokratie skandinavischen Stils zu entwickeln. Der dritte ist politisch: demokratische Regierungsführung näher an das Volk zu heranzuführen. Und der vierte ist wirtschaftlicher Art: Anspruch auf einen größeren Teil des Nordseeöls und -gases.
Die politischen Spitzen Großbritanniens und vieler europäischer Regierungen drängen die Schotten zu einem Nein gegen die Unabhängigkeit. Die Unabhängigkeit Schottlands, so das „No“-Lager, würde wenn überhaupt nur wenige der behaupteten Vorteile bringen; im Gegenteil: Sie würde großes wirtschaftliches Unheil anrichten – von einer Finanzpanik bis hin zum Abzug von Arbeitsplätzen und Industrie aus Schottland. Zudem würde ein unabhängiges Schottland womöglich aus der Europäischen Union und der Nato ausgeschlossen.
Vorbild Tschechoslowakei
Was soll die übrige Welt von dieser Debatte halten? Sollte man die schottische Unabhängigkeitskampagne als Durchbruch für die Forderung nach kultureller Identität und Selbstbestimmung feiern? Oder sollte man sie als zusätzliche Quelle der Instabilität und Schwäche in Europa betrachten – als etwas, das die Unsicherheit in anderen Ländern und Teilen der Welt steigern würde?
Sezessionsbewegungen können zweifellos große Instabilität verursachen. Denken wir an die regionalen und globalen Turbulenzen im Fall des Kosovo, den Süd-Sudan, Kurdistan und die Krim. Doch kann eine nationale Unabhängigkeit auch auf friedliche, reibungslose Art gehandhabt werden. Die Aufspaltung der Tschechoslowakei im Jahre 1993 in die Tschechische Republik und die Slowakei – die berühmte „samtene Scheidung“ – erlegte keinem der beiden Nachfolgestaaten wesentliche oder langfristige Kosten auf. Beide akzeptierten die Spaltung und konzentrierten in dem Wissen, dass ihre Zukunft innerhalb der EU liegen würde, ihre Aufmerksamkeit auf den EU-Beitritt.
Damit hätten wir ein plausibles, positives Szenario für ein unabhängiges Schottland. Das übrige Vereinigte Königreich (in der aktuellen Debatte als „RUK“ (Rest-UK) bezeichnet), bestehend aus England, Wales und Nordirland, könnte die Bedingungen der Unabhängigkeit schnell und effektiv mit Schottland aushandeln und eine Vereinbarung über die Aufteilung der öffentlichen Schulden und Vermögenswerte Großbritanniens treffen, die auch das Nordseeöl und -gas umfassen. Beide Seiten würden pragmatische und gemäßigte Forderungen stellen.
Zugleich würde die EU umgehend dem Fortbestand der schottischen Mitgliedschaft zustimmen; schließlich hält Schottland bereits alle vorgeschriebenen Gesetze und demokratischen Standards ein. In ähnlicher Weise könnte die Nato umgehend der weiteren Mitgliedschaft Schottlands im Bündnis zustimmen (auch wenn das Versprechen der Scottish National Party, die Atom-U-Boot-Stützpunkte der USA und Großbritanniens zu schließen, eine Schwierigkeit wäre, für die noch eine Lösung gefunden werden müsste).
Rachsucht hilft keinem
Möglicherweise würden Schottland und RUK übereinkommen, dass Schottland das britische Pfund für eine Übergangszeit beibehält, aber seine Währung auf ein neues schottisches Pfund oder den Euro umstellt. Falls diese geldpolitischen Vereinbarungen transparent und in kooperativer Weise abgefasst wären, könnten sie reibungslos und ohne finanzielle Turbulenzen umgesetzt werden.
Sollten RUK, EU und Nato allerdings rachsüchtig auf ein „Yes“-Votum reagieren – sei es, um Schottland eine Lehre zu erteilen oder um andere (wie Katalonien) abzuschrecken –, könnte die Sache sehr hässlich und sehr teuer werden. Stellen wir uns vor, das gerade unabhängige Schottland flöge aus der EU und der Nato raus und ihm würde gesagt, dass es noch auf Jahre draußen bleiben müsste. In diesem Szenario würde tatsächlich eine Finanzpanik provoziert, und sowohl Schottland als auch RUK würden wirtschaftlich leiden.
Der wichtigste Punkt ist, dass die Kosten der Trennung Entscheidungssache sind und keine Zwangsläufigkeit. Sie hängen vor allem davon ab, wie RUK, EU und Nato auf ein „Yes“-Votum reagieren und wie gemäßigt die Verhandlungspositionen des neuen unabhängigen Schottlands sind. Mit kühlem Kopf ließe sich eine Unabhängigkeit Schottlands relativ preiswert erreichen.
Die Gefahren einer nationalen Abspaltung sind dort viel größer, wo es keine übergreifenden Organisationen wie die EU und die Nato gibt, die dafür sorgen, dass die Situation zwischen den Nachfolgestaaten nicht aus dem Ruder läuft. Unter derartigen Umständen führen einseitige Forderungen nach Unabhängigkeit, die auf den Widerstand der nationalen Regierung oder einer subnationalen Einheit treffen, häufig zum Zusammenbruch von Handel und Finanzwesen – und oft genug zum offenen Krieg, wie beim Auseinanderbrechen der Sowjetunion, Jugoslawiens und zuletzt des Sudans zu beobachten war.
Die Schotten dürfen nicht bestraft werden
In diesen Fällen folgten auf die Trennung tatsächlich tiefe wirtschaftliche und politische Krisen, die zu einem gewissen Grad noch immer anhalten. Im Falle des ehemaligen Jugoslawiens und der früheren Sowjetunion gingen einige, aber nicht alle der Nachfolgestaaten in EU und Nato auf, was zu erheblichen geopolitischen Spannungen führte.
Es kann in der internationalen Politik im 21. Jahrhundert nicht länger nur um Nationalstaaten gehen. Die meisten zentralen, für das nationale Wohl entscheidenden Problemfelder – Handel, Finanzwesen, Rechtstaatlichkeit, Sicherheit und das physische Umfeld –, sind zumindest ebenso sehr vom Vorhandensein effektiver regionaler und globaler Institutionen abhängig. Selbst wenn Schottland seine Unabhängigkeit erklärt, wird es weiterhin in ein dichtes Netz europäischer und globaler Regeln und Verantwortlichkeiten eingebunden sein, und das sollte auch so bleiben.
Ich persönlich stehe der Unabhängigkeit Schottlands als Weg zur Stärkung der schottischen Demokratie und kulturellen Identität wohlwollend gegenüber. Doch ich unterstütze diese Unabhängigkeit nur unter der Annahme, dass Schottland und RUK Teil einer starken und effektiven EU und Nato bleiben.
Mit Sicherheit würde ein „Yes“-Votum eine effiziente Führung auf EU-Ebene noch wichtiger machen. Doch sollten EU und Nato ein unabhängig gewordenes Schottland „bestrafen“, indem sie es ausschlössen, könnte dies zu einer echten Katastrophe führen – und zwar nicht nur für Schottland und das Vereinigte Königreich, sondern auch für die europäische Demokratie und Sicherheit.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
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