Kommentar Der nächste Realitätsschock

Die Energiekosten steigen und steigen
Die Energiekosten steigen und steigen
© Rene Traut / IMAGO
Wenn die Ampel ihre hehren Pläne retten will, muss sie sich dem Preisschock an den Energiemärkten stellen: Verbraucher und Unternehmen brauchen eine schnelle und breite Entlastung

Auch jüngere Jahrgänge wissen genau, was gemeint ist, wenn man die Ölkrise 1973 erwähnt – sie hat damals mit den leeren Autobahnen ikonografische Bilder produziert; dazu kam ein generelles Tempolimit, sogar extra Ferien gab es damals in manchen Regionen, damit die Schulen weniger heizen mussten. Und ein quietschiger Aufkleber der Bundesregierung in schwarz-rot-gold, mit der Aufschrift: „Ich bin Energiesparer“. Er klebte auch bei uns zu Hause an der Tür zum Heizungskeller.

Ziemlich genau 48 Jahre danach hat, zumindest Europa, einen ähnlichen Schock erlebt. Oder besser: Erlebt ihn immer noch – nur mit dem Unterschied, dass sich nicht innerhalb weniger Tage die Benzinpreise an den Tankstellen verdoppelt haben. Es ist ein Schock, der sich im vergangenen Herbst zunächst nur an den Energie- und Rohstoffbörsen ankündigte und erst in diesem Frühjahr bei uns allen ankommen wird: Der Preis für Erdgas stieg im Oktober, November auf ungekannte Höhen – von 15 bis 25 Euro je Megawattstunde (was die letzten 15 Jahre stets die übliche Preisspanne war) auf zunächst an die 80 Euro und im Dezember am Spotmarkt sogar auf mehr als 180 Euro. Inzwischen ist der Preis wieder etwas runtergekommen, er liegt aber immer noch bei 70 bis 80 Euro – dem etwa Vierfachen gegenüber dem langjährigen Mittel.

Das erinnert stark an den Ölpreisschock 1973, als das Barrel Rohöl sich binnen weniger Wochen und Monate von 3 auf 12 Dollar verteuerte. Nur, dass wir anders als damals nicht mal auf das Fahrrad umsteigen können. Wir heizen mit Gas, wir produzieren damit Strom und setzen Gas als Energieträger in vielen Industrieunternehmen ein. Gas macht heute gut 28 Prozent des deutschen Energiemixes aus, und wir werden künftig eher noch mehr davon benötigen.

Energiepreise treiben die Inflation

Uns begegnet dieser Preisschock bereits seit einigen Wochen hier und da, zum Beispiel am Gemüseregal im Supermarkt, wo die Cocktailtomaten aus Holland neuerdings 5 Euro kosten. Nicht das Kilo, sondern die 180-Gramm-Schale. Gemüse aus dem Treibhaus wird zum Luxusprodukt in diesem Winter. In der Wäscherei hängt seit Weihnachten ein kleines Schild an der Kasse: „Wegen der gestiegenen Energiepreise sehen wir uns leider gezwungen, die Preise zu erhöhen.“ Die neuesten Zahlen der Statistiker diese Woche waren ein Schock: Statt wie erwartet kräftig um mindestens einen Prozentpunkt zu sinken, verharrte die Inflationsrate in der Euro-Zone praktisch auf ihrem Niveau bei 5,1 Prozent. Deutlich mehr als die Hälfte der aktuellen Inflationsrate, schätzen Volkswirte, geht auf die Energiepreise zurück.

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Viele zehntausend Strom- und Gaskunden haben in den vergangenen Wochen bereits erfahren, was dies für sie bedeutet: Ihr Versorger hat ihnen entweder die Tarife verdoppelt, den Liefervertrag gekündigt oder gleich die Insolvenz angemeldet. Die Verbraucherzentralen werden bestürmt mit empörten oder verzweifelten Anfragen, neue Verträge kosten oft das Doppelte oder Dreifache der bisherigen. Für einen Familienhaushalt mit Gasheizung im Keller und einem Jahresverbrauch von 20.000 Kilowattstunden steigt die Heizkostenrechnung dieses Jahr im Schnitt um etwa 1500 Euro auf annähernd 3000 Euro, hat das Vergleichsportal Check24 errechnet . Und weil das Gas auch die Strompreise treibt, kommen hier noch mal einige hundert Euro im Jahr hinzu. Von den Benzinpreisen an der Tankstelle (denn ja, auch der Ölpreis ist massiv gestiegen) ganz zu schweigen.

Viele Haushalte werden in diesem Jahr einen kleineren bis mittleren vierstelligen Betrag weniger in der Kasse haben. Das sind zwei Wochen Urlaub im Süden mit den Kindern, oder eine neue Waschmaschine, wenn die alte den Geist aufgibt.

Was macht die EZB?

In dieser Lage schaut man natürlich als erstes auf die Europäische Zentralbank, die mit ihrer Geldpolitik die Zinsen seit Jahren künstlich niedrig hält und in den Augen vieler Ökonomen die Inflation damit befeuert hat. Immerhin, EZB-Präsidentin Christine Lagarde deutete gestern eine Wende an , wahrscheinlich wird die EZB in diesem Jahr doch noch die Zinsen erhöhen.

Aber davon hat kein Haushalt mehr Geld in der Tasche, im Gegenteil. Und die Gaspreise werden auch nicht sinken. Wollte die Zentralbank die Inflation unter die Grenze von zwei Prozent drücken, müsste sie bei diesen Energiepreisen mit ihrer Geldpolitik die gesamte Wirtschaft in eine handfeste Rezession stürzen.

Es ist nicht mal ausgeschlossen, dass es dazu die EZB überhaupt braucht. Denn nimmt man den heutigen Gaspreis und schreibt ihn für dieses Jahr fort, dann summieren sich die höheren Gaskosten für Haushalte und Unternehmen in Deutschland auf etwa 45 Mrd. Euro. Das ist in etwa so, als hätte die Regierung zu Jahresbeginn die Mehrwertsteuer auf einen Schlag von 19 auf 22,5 Prozent erhöht. Wir stehen vor einem Kaufkraftverlust und Kostenschub, der Konsum und Unternehmen in den kommenden Monaten noch massiv belasten und bremsen wird.

Gemessen daran verhält sich die Politik bislang auffallend still. Diese Woche verabschiedete das Kabinett einen Heizkostenzuschuss für die Bezieher von Wohngeld, immerhin. Etwa 700.000 Haushalte werden davon profitieren. Und die EEG-Umlage wird wohl schon in diesem Sommer komplett gestrichen, sechs Monate früher als geplant. Der Verzicht auf die 3,7 Cent je Kilowattstunde wird, wenn die Versorger die Senkung wirklich an die Kunden weitergeben, einen Familienhaushalt um gut 200 Euro im Jahr entlasten – respektive um etwa 100 Euro in diesem Jahr. Aber das federt ja allenfalls teilweise die höheren Stromkosten ab, nicht den Anstieg der Gaspreise.

Die Ampel muss für Entlastungen sorgen

Wahrscheinlich ist die Ampel auch deshalb so auffallend still, weil der Preisschock erst langsam bei den Leuten ankommen wird: Viele Verbraucher haben Verträge mit einer Preisbindung von bis zu zwölf Monaten, hier werden die Preise erst allmählich weitergegeben. Mieter dürften erst im nächsten Jahr die böse Überraschung erleben, wenn sie ihre Nebenkostenabrechnung für 2022 in den Händen halten.

Allerdings, und das ist wahrscheinlicher, haben die Spitzen der neuen Ampel-Koalition die Dimension noch gar nicht richtig realisiert. Wahrscheinlich tritt man ihnen nicht mal zu nah, wenn man davon ausgeht, dass sie gar nicht wissen, wie hoch ihre monatliche Strom- und Heizkostenrechnung zu Hause ist – sie sind da sehr selten und haben mit Pandemie und Russland ja noch zwei andere Großkrisen um die Ohren. Auch wir mussten zu Hause erst mal alte Abrechnungen herauskramen, um zu prüfen, wie viel Strom und Wärme wir eigentlich so verbrauchen.

Doch das Entsetzen wird in den kommenden Wochen sicher noch anschwellen. Die Koalition wäre daher gut beraten, weitere Entlastungen vorzubereiten. Dies gilt umso mehr, wenn sie vermeiden will, dass die Gewerkschaften aktiv werden und die aktuellen Preissprünge in den nächsten Tarifverhandlungen durch höhere Löhne und Gehälter wieder reinzuholen versuchen.

Da der Staat von den meisten Bürgern keine richtige Kontoverbindung hat, wird er sich etwas anderes einfallen lassen müssen als direkte Zuschüsse: Ein zeitlich befristetes Aussetzen der Energiesteuern etwa, eine Entlastung über die Einkommensteuer – auf jeden Fall eine breite und spürbare Entlastung der Mittelschicht. Und zwar ohne ideologische Debatten, ob Familien mit 100.000 Euro Haushaltseinkommen nun noch eine Entlastung verdienen.

Eine Rezession ist keine Option

Die Gaspreise sind der nächste Realitätsschock für das neue Ampel-Bündnis. Die Welt schert sich herzlich wenig um ihren Koalitionsvertrag, der so viel Fortschritt verspricht. Auch wenn es all ihren Prinzipien widerspricht: Die Grünen werden Verbraucher und Unternehmen entlasten müssen, ausgerechnet wegen dramatisch gestiegener Kosten für die schmutzigen fossilen Energien, die sie eigentlich doch teurer machen wollten. Wenn sie das nicht akzeptieren, werden sie zu ihrem ursprünglichen Plan, der ja heute umso richtiger ist, nämlich der Abkehr von den fossilen Energien, kaum noch kommen.

Und auch FDP-Finanzminister Christian Lindner wird sich von einigen heiligen Grundsätzen verabschieden müssen. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der bald wiedergewählt werden will, nimmt annähernd 20 Mrd. Euro in die Hand, um den Energiekostenschock für die Franzosen abzufedern. Das ist eine realistische Größenordnung, wenn man wirklich etwas anbieten will. Wird das in Deutschland ohne höhere Schulden in diesem und vielleicht sogar im nächsten Jahr aufgehen? Vielleicht nein. Aber was ist die bessere Alternative, wenn man annehmen muss, dass die Energiepreise irgendwann auch wieder sinken werden und die Lage sich entspannt?

Eine handfeste Rezession mit Millionen Haushalten, die mal eben ein paar tausend Euro weniger in der Kasse haben, ist sicher keine sinnvolle Option – erst recht nicht nach zwei Jahren Pandemie und riesigen Rettungspaketen für Unternehmen. Schwer vorstellbar, dass sich die neue Regierung ernsthaft auf dieses politische Wagnis einlassen will.

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