Anzeige

Interview „Den Wert eines Lebens zu berechnen ist nicht schwierig“

Ken Feinberg
Ken Feinberg
© Greg Kahn
Der Anwalt Ken Feinberg verhandelt den Milliarden-Vergleich zwischen Bayer und Tausenden Glyphosat-Klägern. Sein Geschäft gibt einen tiefen Einblick in das Justizsystem der USA

Wenn es gut läuft, könnte noch in diesem Herbst die Einigung stehen, der Milliardenvergleich zwischen dem Agrar- und Chemiekonzern Bayer und Tausenden US-Amerikanern, die den Unkrautvernichtungswirkstoff Glyphosat für ihre Krebserkrankungen verantwortlich machen und vor US-Gerichten auf Schadensersatz klagen. Drei Verfahren hat Bayer verloren, die Entschädigungen sind bereits jetzt so gigantisch, dass der deutsche Konzern in einer tiefen Krise steckt.

Der Mann, der zwischen beiden Seiten vermittelt, ist eine lebende Legende: Kenneth Feinberg wurde berühmt mit einem Entschädigungsfonds für US-Soldaten, die im Vietnamkrieg durch das Entlaubungsmittel Agent Orange erkrankten. Seither hat der heute 73-Jährige bei fast jeder Katastrophe in den USA Entschädigungen für die Opfer ausgehandelt – oft auf Bitten von US-Präsidenten höchstpersönlich. Passend dazu liegt sein Büro in Washington mitten im Zentrum der Macht, neben dem Luxushotel The Willard, nur einen Steinwurf vom Weißen Haus entfernt.

Capital: Mr. Feinberg, Sie wurden als moderner König Salomon, als Herr der Katastrophen bezeichnet, sogar als jemand, der Gott spielt. Welche Jobbeschreibung trifft zu?

KENNETH FEINBERG: Keine. Ich bin ein normalerweise vom Gericht ernannter, neutraler Mediator, der versucht, die gegnerischen Parteien zu einen. Ich habe keine Autorität, ich kann niemanden zwingen, ich kann keine Lösung aufoktroyieren. Ich versuche, den Beteiligten klarzumachen, welche Risiken das amerikanische Rechtssystem für sie birgt – in der Hoffnung, dass sie zu einer Vereinbarung kommen. Und in anderen Fällen, wie nach den Terroranschlägen vom 11. September oder der BP-Ölkatastrophe im Golf von Mexiko und nun bei Monsanto, entwickele oder verwalte ich einen Entschädigungsfonds, bei dem jeder, der einen Schaden erlitten haben will, diesen geltend machen kann.

Gegen Bayer laufen mehr als 18.000 Klagen, weil das von der Konzerntochter Monsanto produzierte Unkrautvernichtungsmittel Roundup Krebs ausgelöst haben soll. Der zuständige Bundesrichter hat Sie mit der Schlichtung beauftragt. Warum sollten beide Seiten lieber auf ein eindeutiges Gerichtsurteil verzichten?

Weil sie mithilfe eines glaubwürdigen Dritten eine Einigung zustande bringen können, während sie ansonsten riskieren, sich jahrelang in Prozessen zu verstricken.

Schnelligkeit statt Gerechtigkeit?

Ja, und vor allem Gewissheit. Wirtschaftlichkeit. Für Unternehmen wie auch Individuen ist es sinnvoll, Risiken zu scheuen.

Wie lange dauert es, einen solchen Burgfrieden zu schmieden?

Beim Entschädigungsfonds nach dem 11. September …

… den die US-Regierung aufgelegt hat, um ruinöse Klagen gegen die Airlines zu verhindern …

… war der Zeitraum auf 32 Monate festgelegt. Bei der Umweltkatastrophe der Deepwater Horizon dauerte es 16 Monate, bei General Motors’ defekten Zündschlüsseln sechs Monate, bei den Massenklagen im VW-Dieselskandal vier Monate. Bei Monsanto? Das muss man sehen.

Wovon hängt das Tempo ab?

Davon, wie viele Schadensersatzansprüche es gibt und welche spezifischen juristischen Probleme sich im Einzelfall stellen. Aber entscheidend ist, wie die Parteien das Risiko und die Kosten eines Gerichtsverfahrens für sich einschätzen, verglichen mit der Möglichkeit, mithilfe eines Mediators zu einer schnellen Lösung zu kommen.

Bayer hat drei Prozesse verloren, ein Gericht hat einem Rentnerpaar 2 Mrd. Dollar Schadensersatz zugesprochen. Erschweren solche Urteile Ihre Arbeit?

Ja, das macht es schwieriger. Aber das waren gerade einmal drei Urteile, und alle in Kalifornien. Das sind nicht 300 oder 3000 Urteile überall im Land. Und Monsanto hat angekündigt, in die Berufung zu gehen. Wir stehen am Anfang.

Als es um die Verteilung der Gelder für die Opfer des 11. September ging, haben Sie mit vielen der Familien selbst gesprochen, um über die Höhe der Zahlung zu entscheiden. Werden Sie das auch im Fall von Bayer tun?

Nein, ich rede mit ihren Anwälten. Wir brauchen eine Gesamtlösung, wir können nicht jeden Fall einzeln schlichten.

Was passiert, wenn ein Teil der Kläger nicht mitmacht?

Wer sich einem möglichen Vergleich nicht anschließen und lieber klagen will, kann das tun. Er setzt dann auf seine Chancen im Gerichtssaal.

Wie viel ist ein Menschenleben Ihnen wert?

Nach dem 11. September haben wir eine Art Entschädigungsmatrix entwickelt. Es wurde ein Verfahren festgelegt, um zu berechnen, wie hoch die Summe für jemanden ist, der bei dem Anschlag auf das World Trade Center gestorben war. Die Hinterbliebenen hatten die Wahl, ob sie das Angebot unverändert annehmen oder ablehnen. In Vergleichsverfahren wie bei Monsanto läuft das anders. Wir nehmen die Position der Kläger auf, es geht zwischen den Anwälten hin und her, und wir versuchen, eine beidseitige freiwillige Vereinbarung zu erreichen.

Viele sagen: ,Behalten Sie Ihr Geld, geben Sie mir meine Frau zurück“
Kenneth Feinberg

Aus dem Fonds zum 11. September wurden Beträge zwischen 250.000 Dollar und 7 Mio. Dollar gezahlt. Die Mutter eines getöteten Hilfskellners bekam einen Bruchteil der Summe, die Sie an Frau und Kinder eines Bankers überwiesen haben. Viele hat das empört.

Ich musste den Hinterbliebenen erklären, dass die Summe davon abhängt, wie viel das Opfer in seinem Arbeitsleben verdient hätte. Für einen Börsenmakler, Banker, Wirtschaftsprüfer oder einen Anwalt waren es vielleicht 5 Mio. Dollar, aber nicht für einen Hilfskellner, Feuerwehrmann oder Polizisten. Den Wert eines Lebens zu berechnen ist nicht schwierig. Das passiert jeden Tag in jedem Gericht in jeder Stadt Amerikas. Es ist eine kalte Kalkulation. Der schwierige Teil besteht darin, mit den Gefühlen umzugehen. Sie müssen jemandem, der einen geliebten Menschen verloren hat, erklären, wie es zu diesen Unterschieden bei der Entschädigung kommt. Das löst garantiert Frustrationen aus.

Und waren die Menschen am Ende zufriedengestellt?

Niemand war zufrieden, egal ob er 250.000 oder 5 Mio. Dollar bekommen hat. Geld ist ein ziemlich schlechter Ersatz für Glück. Viele haben zu mir gesagt: „Mr. Feinberg, behalten Sie das Geld. Bringen Sie mir meine Frau zurück. Bringen Sie mir meinen Mann aus dem World Trade Center zurück.“

Aber am Ende haben sie den Scheck angenommen.

97 Prozent aller Familien haben das Angebot angenommen, 5300 Menschen. Sie haben das Risiko einer Klage abgewogen, die Kosten und die emotionale Belastung und entschieden, dass es besser ist, innerhalb von 90 Tagen das Geld von mir zu erhalten. Besser für sie selbst, die Familie, alle.

Wenn es so einfach ist, den Wert eines Lebens zu berechnen, könnte Sie ein Algorithmus ersetzen?

In gewissem Maße ja. Aber es ist weniger ein Algorithmus als eine Formel, zu deren Variablen der Beruf, die Erfahrung sowie das erlittene physische und emotionale Leid gehören. Das ist keine Atomwissenschaft. Aber es ist hoch emotional. Sie wappnen sich besser für einen Hagel von Kritik.

Nach welcher Formel haben Sie die Entschädigungen für Missbrauchsopfer in der Diözese New York berechnet?

Das war hart. Ihnen sitzt jemand gegenüber, der schildert, was ein Mitglied der Kirche ihm angetan hat. Und Sie bewerten, welche Art von Übergriffen in welcher Häufigkeit welchem Geldbetrag entsprechen.

BP stellte 20 Mrd. Dollar bereit. Sie mussten entscheiden, wer wie viel bekommt, und bestimmten damit über Schicksale. Ist das nicht zu viel Macht für eine Person?

Ja, das ist es. Aber darum sind solche Programme die Ausnahme.

Versuchen die Leute, Ihnen möglichst viel abzuhandeln?

Manchmal wollen sie mich davon überzeugen, dass meine Berechnung nicht fair ist. Aber die Wenigsten beschweren sich, dass ich die Entschädigung zu niedrig angesetzt habe. Die Menschen streiten dann mit mir, wenn sie feststellen, dass andere mehr bekommen. Wie die Witwe, die 1 Mio. Dollar erhielt, ihr Nachbar aber zwei Millionen. „Sie haben meinen Mann nicht gekannt, Sie wissen nichts über ihn. Aber Sie geben mir 1 Mio. Dollar weniger als meinem Nachbarn? Warum, Mr. Feinberg?“, hat sie sich empört. Mit dem Argument, dass das andere Opfer in seinem Job mehr verdient hat, kommen Sie da nicht weit. Es geht um Gefühle.

Was für Fähigkeiten braucht man in Ihrem Job?

Sie müssen sehr, sehr viel Empathie zeigen und Sensibilität für die emotionale Verletzlichkeit der Menschen. Und Sie müssen eine Art Rettungsleine legen, die Sicherheit gibt. Ein Anker, der den Menschen hilft weiterzumachen.

Nicht immer geht es um Opfer. Im Auftrag des früheren Präsidenten Barack Obama mussten Sie Managergehälter bei den vom Steuerzahler geretteten Banken senken.

Ja, das war ganz anders. Aber auch sehr emotional. Die Banker fanden nicht, dass das fair ist. Sie fühlten sich ungerecht behandelt. Die Finanzkrise war nicht ihre Schuld.

Finanzkrise, Anschläge, Amokläufe, Flugzeugabstürze – egal welche Katastrophe, Ihr Name taucht auf, wenn es um die Abwicklung der Schäden geht. Haben Sie ein Mediationsmonopol?

Wenn ich ein Monopol habe, dann, weil ich Erfolg damit hatte, solche Konflikte zu schlichten. Ich werde angerufen, weil die Unternehmen sehen, dass es beim Entlaubungsgift Agent Orange, beim 11. September, bei BP, bei GM funktioniert hat. Deswegen sagt man sich bei Volkswagen oder bei Monsanto: „Wir sollten etwas Ähnliches versuchen.“

Kritiker sagen, dass die Bösewichte sich mit Ihrer Hilfe freikaufen.

Der Vorwurf verkennt, dass es immer Leute gibt, die mein Angebot nicht annehmen und stattdessen klagen. Die Verfolgung der Übeltäter vor Gericht findet auf einer parallelen Spur statt.

Aber Sie privatisieren das Recht. Untergräbt das nicht die Justiz?

Ich würde das Argument umdrehen: Ohne meine Vergleiche wäre das Rechtssystem zu abschreckend. Es gibt zu viele Fälle, und Unternehmen werden auf unrealistische Weise bestraft. Durch meine Vergleiche bekommt ein Großteil der Menschen Geld. Ein paar andere gehen den gerichtlichen Weg, das ist in Ordnung.

Viele Deutsche halten das US-Rechtssystem für verrückt, insbesondere die gigantischen Entschädigungen wegen Produktklagen.

Das sagen nicht nur die Deutschen. Und es hat einen wahren Kern. Besonders bei Massenklagen wie Monsanto, VW oder BP schauen ausländische Unternehmen mit Entsetzen auf das hiesige Rechtssystem. Zum Teil ist die Kritik berechtigt.

Bereuen manche Kläger später, wenn sie bei Ihnen für Geld auf eine Klage verzichtet haben?

Sie bereuen es manchmal währenddessen. Sie unterschreiben die Verzichtserklärung, aber sie sind gleichzeitig enttäuscht, dass sie es tun. Aber sie tun es trotzdem.

Man würde eine Armada von Anwälten in Ihrem Büro erwarten. Aber außer Ihnen und Ihrer Assistentin ist niemand hier, oder?

Ich und meine Assistentin Camille Biros, die seit 40 Jahren mit mir arbeitet und Weltexpertin darin ist, eine Struktur für die Entschädigungsfonds auszuarbeiten. Wenn ich Leute brauche, heuere ich sie an. Bei BP waren es 4300. Ich hatte damals 35 Büros entlang der Golfküste zwischen Texas und Alabama.

Sie haben mehr als 20 Mrd. Dollar verteilt: Wird Ihnen bei solchen Summen nicht manchmal schwindelig, wenn Sie nachts aufwachen?

Was mich nachts im kalten Schweiß aufwachen lässt, sind die Geschichten der Opfer, die nach dem Verlust eines Angehörigen zu mir kommen. Das zehrt an den Kräften.

Was macht die Beschäftigung mit all den Desastern mit Ihnen?

Man wird sehr fatalistisch. Man plant nicht weit voraus, weil man gesehen hat, wie unvorhersehbare Katastrophen Schrecken und Tragödien verursachen. Nur weil jemand zur falschen Zeit am falschen Ort war.

Trotzdem denken Sie nicht ans Aufhören.

Ich mag an meinem Job, dass mich Richter oder der Präsident der Vereinigten Staaten – George Bush nach dem 11. September oder Barack Obama bei BP – bitten, einen anderen, kreativen Weg außerhalb des Gerichts einzuschlagen. Wenn Sie der Präsident bittet, so etwas zu entwickeln, dann tun Sie es.

Das Interview ist in Capital 10/2019 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay

Mehr zum Thema

Neueste Artikel