Robert Skidelsky ist Mitglied des britischen Oberhauses und emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Warwick.
Im Jahr 1923 hat sich John Maynard Keynes mit einer grundlegenden ökonomischen Frage beschäftigt, die auch heute noch wichtig ist. „Inflation ist ungerecht und Deflation ist unpraktisch“, schrieb er. „Von den beiden ist die Deflation vielleicht…die Schlechtere, da es schlimmer ist, Arbeitslosigkeit zu verursachen, als die Anleger zu enttäuschen. Aber es ist nicht nötig, dass wir ein Übel gegen das andere abwägen.“
Die Logik dieser Argumentation scheint unwiderlegbar. Weil viele Verträge in finanzieller Hinsicht „träge“ sind (sich also nicht leicht ändern lassen), sind sowohl Inflation als auch Deflation für die Wirtschaft gefährlich. Durch steigende Preise wird der Wert von Ersparnissen und Pensionen verringert, während fallende Preise die Gewinnerwartungen schmälern, das Hamstern fördern und den Realwert der Schulden erhöhen.
Keynes’ Grundsatz, einer der wenigen, die überlebt haben, wurde zum unangefochtenen Motto der Geldpolitik. Laut allgemeiner Ansicht sollten Regierungen stabile Preise anstreben. Eine kleine Inflation kann dabei gut sein, da sie in Unternehmern und Käufern „das Tier weckt“.
Notenbanken verfehlen Inflationsziel regelmäßig
In den zehn Jahren vor der Finanzkrise von 2008 legten die unabhängigen Zentralbanken ein Inflationsziel von zwei Prozent fest, um den Volkswirtschaften einen „Anker“ der Preisstabilität zu geben. Jeglicher Erwartung, die Preise könnten mittel- oder langfristig von diesem Ziel abweichen, sollte vorgebeugt werden. Das Ziel war, die Unsicherheit über die künftige Preisentwicklung aus den Unternehmenskalkulationen zu verbannen.
Seit 2008 haben die US-Notenbank Fed und die Europäische Zentralbank (EZB) das Inflationsziel von zwei Prozent jedes Jahr verfehlt, und die Bank of England (BoE) hat es nur in einem von sieben Jahren erreicht. Darüber hinaus wird erwartet, dass 2015 die Preise in den USA, der Eurozone und Großbritannien fallen werden. Was also bleibt vom Inflationsanker übrig? Und was bedeuten fallende Preise für die wirtschaftliche Erholung?
Zunächst müssen wir uns daran erinnern, dass der „Anker“ immer schon ebenso wackelig war wie die Geldtheorie, auf der er beruht. Das Preisniveau ist immer ein Ergebnis vieler Faktoren, von denen die Geldpolitik vielleicht der unwichtigste ist. Der wahrscheinlich wichtigste Einfluss, der die Inflation heute unter ihren Zielwert fallen lässt, ist der Zusammenbruch des Ölpreises, ebenso wie dessen Anstieg 2011 der Grund für höhere Teuerungsraten war.
Wie der britische Ökonom Roger Bootle in seinem Buch The Death of Inflation von 1996 zeigte, hatten die preissenkenden Effekte der Globalisierung einen viel wichtigeren Einfluss auf das Preisniveau als die Anti-Inflationsmaßnahmen der Zentralbanken. In der Tat haben die Erfahrungen mit dem „Quantitative Easing“ nach der Krise die relative Machtlosigkeit der Geldpolitik gegen den weltweiten Trend zur Deflation aufgezeigt. Zwischen 2009 und 2011 hat die BoE 375 Mrd. Pfund (fast 500 Mrd. Euro) in die britische Wirtschaft gepumpt, um „die Inflation zurück auf ihren Zielwert zu bringen“. Die Fed hat über einen etwas längeren Zeitraum 3 Billionen Dollar mobilisiert. Das Beste, was sich über diese gigantische geldpolitische Expansion sagen lässt, ist, dass sie die Inflation für kurze Zeit nach oben getrieben hat.
Gute Disinflation und schlechte Deflation
Das alte Sprichwort trifft es gut: „Man kann ein Pferd zum Wasser führen, es aber nicht zum Trinken zwingen.“ Menschen können nicht gezwungen werden, Geld auszugeben, wenn sie gute Gründe haben, es nicht zu tun. Wenn die unternehmerischen Aussichten schlecht sind, werden Unternehmen wahrscheinlich nicht investieren. Wenn Haushalte in Schulden ersticken, werden sie wahrscheinlich nicht in einen Kaufrausch geraten. Jetzt, wo die EZB ihr eigenes Billionen-Euro-Programm geldpolitischer Expansion startet, um die stagnierende Wirtschaft der Eurozone zu stimulieren, wird auch sie diese Wahrheit entdecken.
Was also passiert mit der Erholung, wenn wir das bekommen, was beschönigend „negative Inflation“ genannt wird? Bis jetzt war der Konsens dazu, dass dies schlecht für die Produktion und die Beschäftigung sei. 1923 hat Keynes den Grund dafür angeführt: „Die Tatsache fallender Preise“, schrieb er, „schadet den Unternehmern, also werden sie aus Angst vor fallenden Preisen ihre Unternehmungen drosseln.“
Aber viele Kommentatoren reagieren freudig auf die Erwartung fallender Preise. Sie unterscheiden zwischen „guter Disinflation“ und „schlechter Deflation“. Gute Disinflation bedeutet steigende Realeinkommen für Kreditgeber, Pensionäre und Arbeitnehmer sowie fallende Energiepreise für die Industrie. Alle Sektoren der Wirtschaft geben mehr aus, was die Produktion und die Beschäftigung antreibt (und auch das Preisniveau stabilisiert).
Im Gegensatz dazu bedeutet „schlechte Deflation“ eine Erhöhung der realen Schuldenlast. Ein Schuldner verpflichtet sich, jedes Jahr eine feste Summe an Zinsen zu bezahlen. Wenn der Wert des Geldes steigt (und die Preise fallen), kosten ihn die zu zahlenden Zinsen gemessen in Gütern oder Dienstleistungen, die er kaufen könnte, mehr, als wenn die Preise gleich geblieben wären. (Umgekehrt würden ihn die Zinsen bei einer Inflation weniger kosten.) Daher bedeutet Preisdeflation auch Schuldeninflation, und eine höhere Schuldenlast bedeutet geringere Ausgaben. Angesichts des riesigen Ausmaßes der bestehenden privaten und öffentlichen Schulden ist schlechte Deflation, wie Bootle schreibt, „ein kaum vorstellbarer Albtraum“.
Zustand der Halbstagnation
Aber wie können wir verhindern, dass gute Disinflation zu schlechter Deflation wird? Die Apostel der geldpolitischen Expansion glauben, man müsse dazu lediglich die Druckerpresse anwerfen. Aber warum sollte das in Zukunft erfolgreicher sein als in den letzten paar Jahren?
Die Vermeidung von Deflation – und damit die Möglichkeit einer dauerhaften wirtschaftlichen Erholung – scheint von zwei Szenarien abzuhängen: entweder einer schnellen Umkehrung des Energiepreisverfalls oder einer gezielten Politik der Produktions- und Beschäftigungssteigerung durch öffentliche Investitionen (die als Nebenprodukt auch steigende Preise zur Folge hätten). Dies würde aber bedeuten, die Priorität auf Defizitverringerung umzukehren.
Niemand kann sagen, wann das erste Szenario eintreten wird, und keine Regierung ist bereit, das zweite umzusetzen. Das wahrscheinlichste Ergebnis ist also die Fortschreibung des bisherigen Trends: ein Dahintreiben im Zustand der Halbstagnation.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
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