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Analyse Volvo - Remake einer Marke

Als der chinesische Geely-Konzern 2010 nach Volvo griff, hielten viele das für eine riskante Wette. Doch bis jetzt ist die Rechnung aufgegangen.
Produktionsstart für den S60: Der erste Volvo unter chinesischem Dach
Produktionsstart für den S60: Der erste Volvo unter chinesischem Dach
© Volvo Car Group

Auf den ersten Blick hat das grau glänzende Fahrgestell nichts Außergewöhnliches. Seine Reifen, die Aufhängung und der Motor sind da, wo man sie erwartet. Doch es hat großen symbolischen Wert, weil es für den greifbaren Fortschritt in einer der mutigsten Industriegeschichten der vergangenen Jahre steht.

Die neue kompakte Modular-Architektur (CMA) ist die Modell-Plattform, mit der die Premiummarke Volvo Cars und Geely, der chinesische Hersteller vergleichsweise simpler Massentechnik, gemeinsam in die Zukunft gehen. „Dies ist die Brücke zwischen den beiden Konzernen“, sagt Mats Fagerhag, Chef der schwedischen und chinesischen Techniker, die den Karosserietyp in Göteborg gemeinsam entwickelten.

Mit dem Kauf Volvos von Ford im Jahr 2010 schnappten sich die Chinesen erstmals eine prominente Automarke im Westen. Nun gilt er als Testfall für den industriellen Ehrgeiz und die Finanzkraft, mit der immer mehr chinesische Firmen auf globale Einkaufstour gehen – misstrauisch beäugt von Europäern wie Amerikanern.

Dabei hat Volvo dem neuen Eigentümer nicht von Anfang an Freude bereitet. Beinahe wäre der Autobauer nach einem Tief in den Jahren 2011 und 2012 noch dem Landsmann Saab in die Insolvenz gefolgt. Seitdem brachten einige mutige Entscheidungen in Hangzhou und Göteborg den Turnaround.

"Wir gaben ihnen die Freiheit zurück"

Gegenwärtig sind die Schweden fast so profitabel wie die großen Marken Audi, BMW und Mercedes, auch wenn sie mit 500.000 Fahrzeugen nur etwa ein Drittel von deren Ausstoß erreichen. Die ersten Modelle unter chinesischem Dach – vor allem der SC90, ein Riesenauto der Gattung SUV, und die Volvo-Limousine S60 – haben gute Kritiken eingefahren. Sie halfen, das Image vom sicheren aber kantigen Schwedenstahl aufzumöbeln.

Ab dem kommenden Jahr will das Unternehmen in den USA und in China die Vorzüge der mit Geely gemeinsam entwickelten Kompaktarchitektur ausspielen. Vor allem der US-Markt war bislang wenig gewinnträchtig.

Zugleich fragen Marktbeobachter, ob Volvo groß genug ist, um in der mörderischen Branche zu überleben. Wohl sind die Schweden auf Platz fünf der Premiumhersteller, sie schaffen es aber nicht unter die 30 führenden Autobauer. Jedes neue Modell ist somit überlebenswichtig. „Das Misstrauen gegenüber den Chinesen hat sich gelegt“, sagt Christer Karlsson, Professor an der Copenhagen Business School. „Aber ist das alles nachhaltig? Das größte Problem ist die Größe. Sie können sich in der Produktgestaltung keinen Fehltritt leisten.“

Für Vorstandschef Hakan Samuelsson lag die bedeutendste Entscheidung der Chinesen darin, Volvo „seine Eigenständigkeit zurückzugeben“. Eine Investition in seine Stärke. Geely-Chef Li Shufu „löste Volvo aus einem Großkonzern heraus“, sagt Samuelsson, „und machte aus einer Abteilung wieder ein Unternehmen. Das verleiht neue Energie.“ Geely-Gründer Li fasst es kürzer: „Wir gaben ihnen die Freiheit zurück.“

Risikobereitschaft

Um die ganze Tragweite von Volvos Comeback zu erfassen, muss man sich die verlustreichen Jahre der Traditionsmarke noch einmal vor Augen halten. Zwar wurde 2011 ein Gewinn vor Steuern von 1,2 Mrd. Schwedischen Kronen erzielt. Schon 2012 aber folgte die Krise mit dem Einbruch der Verkaufszahlen in Europa und einem Vorsteuerverlust von 915 Mio. Kronen „Alle bei Volvo hatten Angst“, sagt Chefdesigner Thomas Ingenlath. „Sie dachten, die Firma schmiert ab.“

Eigentümer Li, dessen Karriere ihn von Kameras und Kühlschränken über Motorräder zu Fahrzeugen unter Lizenz eines Gefängnisses der Provinz Sechuan führte, räumt ein, dass Volvo nie eine sichere Wette gewesen sei. „Es gab ein Risiko, und das Risiko war ziemlich hoch“, sagt er in der Geely-Zentrale in Hangzhou, einer Stadt 160 Kilometer südlich von Shanghai in der Provinz Zhejiang.

Geely-Chef Li Shufu ging mit dem Volvo-Kauf eine riskante Wette ein
Geely-Chef Li Shufu ging mit dem Volvo-Kauf eine riskante Wette ein
© Volvo Car Group

Unter seiner Führung legte der Vorstand 2012 Entschlossenheit, ja Brutalität, an den Tag. CEO Stefan Jacoby wurde gefeuert, während er sich in einem Krankenhaus noch von den Folgen eines Schlaganfalls erholte. Li begründet den Schritt mit „Unzufriedenheit über Strategie und Leistung des Managements“. Auf den Ex-VW-Manager Jacoby folgte der ehemalige MAN-Vorstandschef Samuelsson aus dem Volvo-Aufsichtsrat.

„Es waren unruhige Zeiten“, sagt ein Volvo-Veteran. „Wir hatten schon Sorge, welche Absichten Geely so hegte.“ Li kritisierte das Design als „zu skandinavisch“ – nur Tage, nachdem Samuelsson das schwedische Image als eine Stärke der Marke gelobt hatte. Der Chef will heute von Spannungen nichts mehr wissen. „In jeder Ehe gibt es unterschiedliche Meinungen“, sagt er nur.

Samuelsson hegte zuerst die Verluste ein. Ein aggressives Sparprogramm im Umfang von 1,5 Mrd. Kronen brachte Kürzungen bei Beratern, IT und Marketing. Und er setzte auf höhere Absatzzahlen in China, dem weltgrößten Automarkt, wo Volvo trotz des Eigentümerwechsels erst seinen Bekanntheitsgrad steigern musste.

„Die Ausrichtung des Autobauers auf China war der wichtigste Impuls“, befindet Bill Russo, ein Branchenkenner mit Sitz in Shanghai. „Geely verwandelte Volvo von einer halbherzig globalisierten Firma in Skandinavien zu einem globalen China-zentrierten Unternehmen.“

Die Ernte fährt Volvo nun ein. China ist sein größter Einzelmarkt mit 82.000 verkauften Fahrzeugen im vergangenen Jahr, verglichen mit je 70.000 in Schweden und den USA. Wohl wächst der chinesische Automarkt inzwischen langsamer. Doch es gibt Ausnahmen: Der SUV-Umsatz etwa stieg um fast 45 Prozent im ersten Quartal 2016.

Im Betriebsergebnis machte Volvo in den ersten drei Monaten 7,5 Prozent Umsatzrendite, nahe dem langfristigen Ziel von 8 Prozent. Vor kurzem begab Volvo die ersten Anleihen – ein Schritt in Richtung Börsengang, den Geely angeblich langfristig anstrebt.

Rettungsring

Denn die Übernahme war nicht nur Volvos Rettung. Sie sollte auch den 1997 gegründeten ersten nicht-staatlichen chinesischen Autobauer retten. Geely – übersetzt heißt das Glück verheißend – wird nun an der Börse von Hongkong gehandelt, und Li hält 42 Prozent über die Zhejiang Geely Holding, die wiederum zu 100 Prozent Volvo kontrolliert.

Zum Zeitpunkt der Übernahme war Geely aber kleiner als Volvo. Wohl zweitgrößter privater Hersteller in China, aber mit 327.000 verkauften Fahrzeugen nur Nummer zwölf. Konfrontiert mit Qualitätsproblemen und scharfem Wettbewerb, lenkte Geely seinen Ehrgeiz auf die schwedische Premiummarke mit höheren Verkaufszahlen. Es war eine Reaktion auf zwei existenzbedrohende Umstände, sagt Li: „Geely Auto war zu klein und die Fähigkeit für neue Technologien zu gering.“

Das London Taxi ist das wohl bekannteste Modell, das bei Geely hergestellt wird
Das London Taxi ist das wohl bekannteste Modell, das bei Geely hergestellt wird
© dpa

Einem Joint Venture, dem bevorzugten Kooperationsmodell der Chinesen mit westlichen Partnern, erteilte Li eine Absage. Er meint, die Chinesen jagten darin Technologie und Prestige hinterher, während die Ausländer auf Profit aus seien. „Das kann abheben, aber es gibt viel Reibung in so einer Partnerschaft.“

Er zieht den Vergleich mit einem akademischen Grad, den jemand erlangen wolle, ohne sich dafür zu qualifizieren. Aber Volvo sollte Geely ja etwas beibringen. „Es ist wie zur Schule gehen“, sagt Li über das gemeinsame Forschungszentrum in Göteborg, wo Techniker beider Seiten die Kompakt-Architektur entwickelten. „Geely hat jetzt gelernt zu lernen.“

Das gemeinsame Unternehmen China Euro Vehicle Technology (CEVT) zählt nun 1900 Beschäftigte in Schweden und China. Darin entstehen die Plattform und einige gemeinsame Komponenten für Volvo, während die Chinesen ihre Geely-Kleinwagen mit neuem Design und Technologie aufwerten können.

So kann die Plattform mit fünf möglichen Klimaanlagen ausgestattet werden – mit sechs Temperatursensoren für die Volvo-Version und nur einem für die Geely-Basisversion. Die Aufhängung fällt mit Gummi-Isolierung für Volvo-Fahrer weicher aus als die verstanzte für Geely-Fahrer. So bleibt Geely einfach aber hält technologisch Schritt.

„Geely gewinnt Zugang zu neuer Technolgie“, fasst Vorstandschef Samuelsson den Deal zusammen. „Volvo bekam einen stabilen Eigner, eine Schnellspur nach China, neue Führungsstrukturen, und die Mittel für neue Technologie.“

Am Markt bestehen

Samuelsson sagt, er bekomme von Li im Vorstand die Unterstützung, die er brauche. Das Mikromanagement interessiere ihn weniger. Was auch Volvos Entwicklungschef Peter Mertens bestätigt. Geely habe keine Dividende abgezogen und stattdessen alles investiert. 75 Mrd. Kronen habe Geely für neue Modelle, Motoren und eine zweite Plattform für die größeren 60er- und 90er-Modelle ausgegeben.

Unbeantwortet bleibt die Frage nach der kritischen Überlebensgröße. Mit seinem Umsatz von 164 Mrd. Kronen erreichte Volvo 2015 nur ein Fünftel des BMW-Ergebnisses und weniger als ein Viertel der Verkaufszahlen. „So klein wie wir sind, müssen wir flink sein, um zu überleben“, sagt Mertens.

Volvo versucht, diese Herausforderung ins Positive zu kehren. Im Gegensatz zu seinen deutschen Rivalen, die eine Vielzahl von Varianten anbieten, konzentriert man sich auf nur drei Modellfamilien: klein, mittel und groß, jeweils in den drei Typen Geländewagen, Limousine und Estate. Chefentwickler Mertens spricht vom schlanksten Kfz-Hersteller der Welt: mit nur einer Motorenfamilie, zwei Plattformen und vier Antriebssystemen. Volkswagen bietet den neuesten Golf mit 117 unterschiedlichen Lenkrädern und 341 Vordersitzvarianten an.

Selbst die Entwicklungszeiten wurden drastisch verkürzt. Vor fünf Jahren brauchte Volvo 44 Monate für eine Neuheit. Nun sind es 30, und Mertens möchte bis 2020 auf 20 Monate herunter.

Samuelsson hält die Skalierung für eine Premiummarke für weniger entscheidend als für Massenserien. „Es ist nicht die Zahl der Fahrzeuge; es ist die Zahl von Armaturenbrettern, von Türgriffen, von Paneelen. Unsere Herausforderung sind höhere Preise (für unsere Autos)“, fügt er hinzu. Volvos Fertigungsziel liegt bei 800.000 Stück bis 2020. Das setzt ein Wachstum von jährlich zehn Prozent voraus.

Volvo-Chef Hakan Samuelsson ist voll des Lobes für den chinesischen Investor
Volvo-Chef Hakan Samuelsson ist voll des Lobes für den chinesischen Investor
© Volvo Car Group

Eigentümer Li ist noch ehrgeiziger: Er deutet von seinem Bürofenster auf die große Anzeigentafel eines Mercedes-Händlers und gibt zu verstehen, dass er zu Audi, Mercedes und BMW aufschließen will. „Mit vereinten Kräften kann Volvo seine Konkurrenten einholen oder gar überholen“, meint Li. „Die Welt verändert sich jeden Tag.“

Luxusauto „Made in China“

Die Holzelemente und Beleuchtung in der Fabrik sollen an eine skandinavische Werft erinnern. Aber die Montagehalle wurde nicht in Schweden gebaut sondern in Chengdu, einer Stadt in der chinesischen Provinz Sichuan, die bekannt ist für scharfes Essen und seine Panda-Schutzgebiete.

Hier findet eines der größten Experimente der Autoindustrie statt. Volvo exportiert Autos der Premiumklasse von China in die USA. „Wir sind der einzige Luxushersteller, der ein in China produziertes Auto nach Nordamerika verkauft“, sagt Fabrikdirektor Luc Semeese.

Die Entscheidung den Volvo S60L, die hochwertigste Variante der Mittelklasse, in die USA zu verschiffen, gilt als „kalkuliertes Risiko“. Aber mit 3500 verkauften Autos 2015, fünf Prozent der Montagezahl, scheint die Rechnung aufzugehen. 7000 sollen es in diesem Jahr werden. Zu Volvos Plänen, ein globaler Autobauer zu werden, gehört auch ein neuer Standort in South Carolina, der 2018 an den Start geht.

Die Montage in Chengdu unterscheidet sich kaum von der in Schweden oder dem belgischen Gent. „Dies ist keine chinesische Fabrik, sondern eine Volvo-Fabrik, die zufällig in China steht“, betont Direktor Semeese, der noch auf eine weitere Produktion und eine Motorenfabrik in China verweist. Die Schweden haben alles eingeführt – von der Firmenkultur, über die Schraubroboter bis hin zur Methode der Fehlererfassung.

Dennoch gibt es kleine Unterschiede. Bei niedrigeren Löhnen als in Europa können einige Arbeiten von Hand erledigt werden. Nach der Qualitätskontrolle werden die Volvo S60 auf Lastwägen nach Shanghai verfrachtet und in die USA verschifft. Den Stempel „Made in China“ tragen sie allerdings nicht.

Copyright The Financial Times Limited 2016

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