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Analyse Nordseeöl: Auf Messers Schneide

Nach dem Ölpreis-Crash geht auf den britischen Feldern in der Nordsee die Angst um. Vor allem kleinere Ölfirmen fürchten um ihre Existenz
Die Andrew-Plattform in der Nordsee: Die niedrigen Preise machen die Ölförderung unrentabel (Foto: BP plc)
Die Andrew-Plattform in der Nordsee: Die niedrigen Preise machen die Ölförderung unrentabel (Foto: BP plc)

Er schreit, damit man ihn im arktischen Wind hören kann. Alistair Hope zeigt auf ein Dutzend Ölplattformen, einige sind ganz nah und leuchten mit ihren Gasflammen einen düsteren Nordseehimmel aus, andere sind nur Pünktchen im Nebel am Horizont.

Hope rattert ihre Namen herunter: Thistle, Dunlin, Murchison, Alwyn, Cormorant, Dunbar. Jede von ihnen ist ein Stahlgigant von der Höhe des Eiffelturms. Und braucht so viel Strom wie die Beleuchtung einer kleinen Stadt. Die Betonbeine sind in 200 Meter Tiefe am Meeresboden verankert. Aber hier geht es nicht nur um schiere Größe. Mr Hope, dessen Name dazu passt, sieht eine Chance.

Sein Aussichtspunkt ist die Brent Delta von Royal Dutch Shell, eine von mehreren Plattformen, die verschrottet werden soll. Der Mann, der den Abbau von einem der größten britischen Ölfelder überwachen soll, schaut über den Crash des Ölpreises hinaus - und sieht einen milliardenschweren Rückbau-Boom.

Ein paar hundert Meilen entfernt, in einem Mayfair-Café in London, ist der CEO einer kleinen britischen Explorationsgesellschaft, der schon viele Höhen und Tiefen des Marktes erlebt hat, weit weniger bullish: "Die Branche steckt in der Krise", sagt Tony Craven Walker von Serica Energy. "Kleine Unternehmen wie wir verlieren ihre Fähigkeit, sich zu finanzieren und Aktionäre zu belohnen. Es ist ein langsamer Tod durch Abnutzung."

Er fürchtet, das Ende des Nordsee-Öls könne viel früher kommen als erwartet. Der Preisverfall, ein Steuersystem, das nach seiner Ansicht Investitionen behindert, sowie die Unfähigkeit der Produzenten zur Zusammenarbeit könnten zu einer Welle vorzeitiger Schließungen von Feldern und zu beschleunigtem Abbau führen. Chris Wheaton, ein Analyst und Fondsmanager bei Allianz Global Investors, sagt, dass die Region zwischen dem Vereinigten Königreich und Norwegen "auf Messers Schneide balanciert".

Ein Drittel der Felder ist unprofitabel

Die Folgen des Ölpreisverfalls von 115 Dollar je Barrel im vergangenen Sommer auf rund 60 Dollar heute breiten sich über den ganzen Globus aus. Für die Verbraucher, vor allem die Autofahrer, ist das billige Öl ein Himmelsgeschenk. Niedrigere Inflation könnte auch Zinserhöhungen in den Industrieländern abwenden. Aber Länder, die auf Öleinnahmen angewiesen sind, um ihre Ausgaben zu finanzieren, leiden darunter. Auch die amerikanischen Produzenten des Schieferöls, deren neues Angebot zum Kollaps des Marktes beigetragen hat.

Die alternden Nordseefelder gelten schon länger als eine Wette im Grenzbereich, aus der sich die größten Ölkonzerne zurückziehen. Heute wirken sie sehr verwundbar. Oil & Gas UK, eine Vertretung der Offshore-Betreiber, sagt, dass ein Fünftel der Produktion bzw. ein Drittel der Felder heute unprofitabel ist. Zieht man die Kosten von den Erlösen ab, dann lagen die Cash-Verluste im vergangenen Jahr bei über 5 Milliarden Pfund, das größte Minus seit den 70er Jahren.

Der Verlust folgt auf einen langjährigen Produktionsrückgang. Der Output auf dem UK-Kontinentalsockel ist seit dem Jahr 2000 rückläufig, obwohl die Investitionen zuletzt auf Rekordniveau lagen. Im vergangenen Jahr sank der Output erneut um ein Prozent auf 1,42 Millionen Barrel Oil Equivalents per Day (boe/d). Der Förderhöhepunkt lag vor 15 Jahren bei 4,5 Millionen boe/d. Die Exploration ist praktisch eingestellt worden.

Die Gründe dafür liegen noch vor dem Preisverfall, der richtig Fahrt aufnahm, nachdem die Opec im November beschloss, ihre Produktion nicht zu kürzen.

Das Finden neuen Öls ist schwieriger geworden. Es gibt zwar reichlich Barrels, die man abzapfen könnte - etwa 10 Milliarden liegen als bekannte Reserven unter dem UK-Sockel und bis zu 24 Milliarden könnte man fördern, sagt Oil & Gas UK. Aber sie finden sich in kleineren Vorkommen, die für Firmen wie BP und Shell, Total aus Frankreich und Conoco Phillips aus den USA, unattraktiver sind. Die Konzerne haben große Explorationsbudgets und brauchen große Funde, um Ausgaben zu rechtfertigen.

Für kleinere Firmen wie Serica ist die Lage komplizierter. Es würde Sinn ergeben, ein einzelnes Feld zu entwickeln, aber man braucht immer noch Zugang zu den Plattformen und den Pipelines der Großen. Der Unterhalt der Infrastruktur erfordert ständige Ausgaben und es kommt oft zum Streit über die Zugangsgebühren. Selbst wenn man also Öl findet, kann es also schwieriger werden, dieses an den Markt zu bringen.

Die Produzenten beklagen außerdem, dass Steuersystem sei zu kompliziert geworden. Eine Zusatzabgabe für die Branche, die 2002 auf die Körperschaftsteuer draufgesetzt worden war, schwoll bis 2011 auf 32 Prozent an. Auch nach einer moderaten Senkung Anfang des Jahres liegt der Grenzsteuersatz in manchen Feldern bei 80 Prozent.

In Norwegen, wie die Produktionssteuern ähnlich hoch sind, können die Firmen 78 Prozent ihrer Explorationskosten gegenrechnen. Das hat zu einem Boom und zur Entdeckung von Feldern wie dem Johan Sverdrup geführt. Allein der Output dieses Felds soll 2025 höher sein als die gesamte UK-Produktion.

Eine Palette von Freibeträgen und Steuergutschriften für bestehende Infrastruktur reduziert die durchschnittlichen Steuersätze. Aber die Regeln sind so komplex, dass sich viele Manager ratlos zeigen.

"Das muss alles vereinfacht werden. Ich kenne kein anderes Land in der Welt, das es so macht", sagt Lord Browne, der frühere Chef von BP. der die Zusatzabgabe am liebsten schon im nächsten Haushaltsjahr ganz streichen will.

Die Ölfirmen haben sich keinen Gefallen damit getan, dass sie die Kosten kräftig steigen ließen als der Ölpreis bei 100 Dollar lag. Der Preis für halbversenkbare Rigs erreichte im vergangenen Jahr ein Mehrjahreshoch von 400 000 Dollar pro Tag, bevor er dann 25 Prozent fiel. Die Ölarbeiter verdienen im Durchschnitt fast sechsstellige Pfund-Gehälter.

Große, integrierte Unternehmen, deren Raffineriegeschäft eine Absicherung gegen niedrige Ölpreise bringt, werden den Sturm am Markt überstehen können. Aber die Aussichten für kleine Gruppen, die stark von Exploration und Förderung abhängen, sind düster.

Nicht jeder sieht schwarz

Bohrloch in der Nordsee (Foto: Harald Pettersen - Statoil)
Bohrloch in der Nordsee (Foto: Harald Pettersen - Statoil)

Die in London gelisteten Öl- und Gasgrüppchen, die sich für Projekte in der Nordsee interessieren, geraten in finanzielle Schwierigkeiten, sagt der Unternehmensbeobachter Company Watch.

Ewan Mitchell, Chef der Analyseabteilung, schätzt, dass 70 Prozent der 126 Explorations- und Produktionsgruppen, die an der Londoner Börse gelistet sind, derzeit Verluste machen. Das gesamte Minus belaufe sich inzwischen auf 1,8 Milliarden Pfund. "Wir erwarten eine Welle von Mergern, Aktienplatzierungen zu Discountpreisen und - leider - auch mehr als nur ein paar Pleiten, wenn die Rohstoffpreise nicht bald wieder steigen", sagt er.

In Aberdeen, dem Zentrum der UK-Ölindustrie, müssen sich die Folgen erst noch zeigen, nachdem BP, Conoco und andere in den vergangenen Wochen die Streichung Hunderter von Stellen angekündigt haben. Aber die Unruhe bei den Zulieferern wächst. Jim McColl, Chef der Engineering-Gruppe Clyde Blowers, sagt, die Nordsee sei noch immer eine reiche Ressource mit einer potenziell großartigen Zukunft. Aber sein Urteil über die Regierungspolitik ist vernichtend: "Die Nordsee wird seit Jahren abgezockt, und das ist der Grund, weshalb Sie hier keine Aktivität sehen."

Die jährliche Berichtssaison war gepfeffert mit angekündigten Investitionskürzungen und sofortigen Kostensenkungen. Die Analysten von Wood Mackenzie schätzen, dass der UK-Anteil an den Investitionen in der Nordsee in diesem Jahr auf 10,2 Milliarden Pfund fallen wird - nach 19,2 Milliarden 2014.

Der Chef der UK Operations bei einer großen Ölgruppe bestätigt, dass sein Bohrprogramm in diesem Jahr reduziert wird. Die stillgelegten Rigs könne man vielleicht schon bald im Cromarty Firth sehen, einem Meeresarm nördlich von Inverness, der für die Ölindustrie so etwas ist wie für die Luftfahrtbranche der Flugzeugfriedhof von Arizona.

"Drei Wochen Arbeit, drei Wochen frei"

Einsparungen werden sich finden. Auf abgelegenen Plattformen ist es oft schwierig, die richtigen Leute, Geräte und Genehmigungen zusammenzubringen, in einer 12-Stunden-Schicht wird deshalb vielleicht manchmal nur sechs Stunden gearbeitet. Wird länger gearbeitet, steigt die Produktivität.

Mehrere Betreiber haben die Entlohnung selbständiger Subunternehmer in diesem Jahr um bis zu 15 Prozent gekürzt und verlangen von ihren Arbeitern neue Schichtpläne nach dem Muster "Drei Wochen Arbeit, drei Wochen frei". Die Zahl der Besatzungen wird dadurch reduziert, und diejenigen, die beschäftigt bleiben, werden mehr Zeit auf See verbringen. Die Gewerkschaften drohen damit, über Arbeitskämpfe abzustimmen.

Für manche ist der Rückzug eine Option. Ein Private Equity Manager sagt, dass Unternehmen, die Vermögensteile verkaufen wollen, jetzt über Deals nachdenken, bei denen "Special Purpose Vehicles" Felder für einen symbolischen Betrag kaufen und aus ihnen den verbliebenen Restwert herausholen. Die Verpflichtungen zum Abbau der Anlagen bleiben beim Verkäufer.

Die Folgen dieses gnadenlosen Kostensenkens und der niedrigeren Preise werden weit über Aberdeen hinaus fühlbar sein. Zulieferer wie der Plattformbauer OGN im Nordosten Englands fürchten künftige Jobverluste. Das Unternehmen hat Arbeit bis ins nächste Jahr, aber kaum darüber hinaus. "Wir sind sehr besorgt", sagt Alexander Temerko, der Vize-Chef. Investitionen, die für die Nordsee vorgesehen waren, könnten in kostengünstigere Förderregionen am Golf und in Asien verlagert werden.

Aber nicht jeder sieht schwarz. George Rafferty, CEO von NOF Energy, einem Branchenverband in Durham, sagt: "Die Herausforderungen waren schon da, bevor der Preis einbrach. Der Preis war so hoch, dass es eine gewisse Selbstzufriedenheit in Teilen der Branche gab."

Centrica, der Eigentümer von British Gas, hat seine Investitionsausgaben über zwei Jahre um 40 Prozent gekürzt und gehört zu denen, die von den Zulieferern Kostensenkungen um bis zu 20 Prozent fordern. Aber Iain Conn, der CEO, arbeitet eher mit dem Skalpell als mit der Axt. "Wir wollen nicht, dass die Zuliefererkette zerreißt. Das ist ein delikater Balanceakt und wir schauen uns alles an."

Conn meint, dass Finanzminister Osborne als Erstes die Erhöhung der Zusatzabgabe von 2011 zurücknehmen muss. Wird der das tun? Er hat signalisiert, dass es weitere Steuererleichterungen geben wird. Aber Derek Leith, Managing Partner bei Ernst & Young in Aberdeen, argumentiert, dass Osborne die Erhöhung von 2011 komplett streichen könnte. Denn er hatte versprochen, sie zu überprüfen, wenn der Ölpreis auf 45 Pfund oder weniger sinken sollte. Die Vereinfachung und Erweiterung der Freibeträge könne die verbleibenden Ölreserven des Landes sichern.

Solch ein Schritt könnte verhindern, dass die Investitionen der Unternehmen zusammenbrechen, die nach kostengünstigeren Förderregionen suchen. Und er könnte auch die Steuereinnahmen erhöhen.

"Es gibt Grenzen dessen, was der Finanzminister tun kann. Aber sie müssen sorgfältig nachdenken", sagt Centrica-Chef Conn. "Wir sind hier nicht im Bereich des bloßen Alarmismus. Das letzte Mal hatten wir so eine Lage 1986, als der Ölpreis innerhalb von sechs Monaten um 60 Prozent fiel, weil die Saudis ihren Marktanteil ausdehnen wollten. Genau dasselbe passiert jetzt wieder. Damals hatte es katastrophale Folgen. "

Copyright The Financial Times Limited 2015

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