Okay, ich bin immer noch in Köln. Aber man gewöhnt sich ja an alles. Nur langsam kriege ich es mit der Angst zu tun. Nein, nicht vor Covid-19 und seinen vielfältigen Folgen. Die sind schlimm genug – keine Frage –, aber die werden wir überwinden, dessen bin ich mir sicher.
Was sich wirklich fatal auswirken wird, ist der vielbeschworene Zusammenhalt, den Sie und ich und überhaupt jeder moralisch anständige Mensch in diesen Zeiten doch an den Tag legen MUSS …
Alle Mann zum Ball
Gefühlt geben wir uns ja gerade alle einem kollektivistischen Hoffnungstaumel hin. Die Aussichten auf Besserung schweißen uns zusammen: Wir verfolgen gemeinsam die langsam sinkende Rate der Neuinfektionen und die Relation der Zahl der Genesenen zu den aktuell Infizierten. Wir lauschen frohlockend den Empfehlungen, die die Leopoldina und andere Experten aussprechen, verfolgen sehnsüchtig erste Lockerungsversuche, wie sie zum Beispiel Österreich und Dänemark wagen, beklatschen Minister, die demonstrativ persönlich Frachtmaschinen voll mit Atemschutzmasken auf dem Rollfeld entgegeneilen.
Wenn Sie jemals am Spielfeldrand einer Kinder-Fußballmannschaft standen, dann kommt Ihnen dieses Phänomen bekannt vor: All die kleinen Nachwuchs-Messis, -Gnabrys, -Werners bewegen sich wie ein Bienenschwarm über das Feld – denn alle laufen Richtung Ball. Und nur wenn es sich um gut trainierte Mannschaften handelt, bleiben wenigstens die Torwarte zwischen ihren eigenen Pfosten stehen, wenn auch widerwillig.
Schon zu Beginn der Pandemie konnten Sie beobachten, wie wir Erwachsenen begonnen haben, alle in dieselbe Richtung laufen.
Augenblicksverengung
Jeder wollte jeden belehren, wie man sich in diesen Zeiten zu verhalten habe und wie unfassbar wichtig das genau jetzt sei. Na ja, und nun laufen eben alle in die Richtung, dass bald alles wieder funktionieren wird.
Sondersituationen wie das erste Punktspiel gegen den Stadtrivalen oder eben diese Pandemie lassen den Fokus einer Herde extrem klein werden. Die Geschehnisse reduzieren die Komplexität der Welt so sehr, dass es gefühlt nur noch das eine Wichtige gibt. Darauf starren alle, kindliche Kicker wie Bevölkerung.
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Was in solchen Zeiten fehlt, ist der Blick auf die Flanken. Die sichert keiner ab. Und an diesen Flanken passiert gerade etwas, was uns meines Erachtens nachhaltiger treffen wird als Corona.
Reflex, Reflex
Während die Herde reflexartig in die Richtung starrt, aus der – wie sie glaubt – der eine böse Wolf gleich kommt, tun die Hirten genauso reflexhaft das, was sie glauben, qua Amt tun zu müssen: Sie ziehen die Schutzzäune um ihre Herde enger und höher. Auf dass sich kein Schaf mehr auf eigene Verantwortung einem Risiko aussetzen und womöglich andere Schafe mit diesem selbstverantwortlichen, nein: unverantwortlichem Verhalten anstecken möge. Die Herde zusammenhalten ist die Devise.
Und auch aus der Herde kommen viele Rufe nach genau diesem Zusammenhalt: Nur wenn alle das Gleiche tun und keiner aus der Reihe tanzt, könne die Herde überleben. Also sei nur zum Wohle der Herde, sich in die Einzäunung zu fügen und sich daran zu erfreuen.
Echt?
Innerlich ausgerichtet
Wenn Sie mein Buch „Der Führerfluch“ kennen, kommt Ihnen dieser Zäunreflex bereits bekannt vor. Den gab es nämlich schon lange vor Corona, er ist systemimmanent. Neu ist nur, dass sich dieser selbsterhaltende Trieb der Hirten gerade im Zeitraffer und an allen Ecken manifestiert – zum Schaden von uns allen. Denn ich behaupte, dass es nur das Hirtentum ist, das von den Zäunen profitiert, nicht die Herde.
Wohlgemerkt: Treiber sind nicht die einzelnen Hirten, die sich ihre persönliche Macht erhalten wollen – ob sie jetzt Spahn, Scholz oder Merkel heißen. Der jeweilige Kopf ist nicht entscheidend, auch wenn er es sein könnte – deshalb ist übrigens auch nicht deren Austausch die Lösung. Der Reflex ist vielmehr eine Auswirkung des Kraftfelds, das das Hirtentum in seiner aktuellen Form erzeugt: Dieses sorgt für eine innere Ausrichtung seiner Protagonisten wie das Magnetfeld der Erde auf die Kompassnadel.
Doch zurück zum Reflex, der sich gerade an so vielen Ecken materialisiert.
Wer soll das bezahlen?
Nehmen Sie zum Beispiel die unendliche Flut der Staatshilfen, die zurzeit aufgeboten werden. Aus dem Hirteninstinkt heraus, der armen Herde Handlungsfähigkeit beweisen zu müssen, werden allerorts die Notenbankpressen zum Glühen gebracht. Geld in unfassbarem Maße wird gedruckt. Unfassbar viele Schulden werden aufgebaut.
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Es ist abzusehen, dass einige Staaten und womöglich die ganze EU dadurch ins Taumeln geraten werden. Denn irgendwer wird diese Schulden bezahlen müssen. Ich weiß nicht, ob es zur Hyperinflation und Währungsschnitt kommen wird, wie manche Propheten es voraussagen, aber möglich ist es. Teuer wird es auf jeden Fall. Sie und ich müssen nicht auch noch zum Propheten werden, um sagen zu können, dass der gesamte Mittelstand die nächsten Jahre darunter leiden wird. Denn die ganzen Auffangnetze werden gefährlich zurückschwingen.
Aufgeklatscht
Für die ganz großen Schafe spannen die Hirten besonders große Netze auf: Wenn ein Sportartikelhersteller eine vom Staat gebürgte KfW-Kreditlinie in Höhe von 3 Mrd. Euro erhält oder ein Luftfahrtkonzern bald halb verstaatlicht wird, finden das die Aktionäre prima. Schließlich sorgen in der Konsequenz alle Bürger mit ihren Steuern dafür, dass diese Aktien nicht ganz abschmieren. Und im Zweifel gehört zu diesen Finanziers auch die Pflegekraft, der bestenfalls Beifall von den Balkonen, aber darüber hinaus nicht viel gespendet wird. Eine beispiellose Umverteilung von Geld in die falsche Richtung findet statt: von unten nach oben. Und auch dazu wird von allen Seiten noch geklatscht. Wie absurd.
Und noch etwas passiert dank des staatlichen Abfederns der Wirtschaft: Die Hirten führen das unternehmerische Risiko gerade gegen null.
Regenerationskiller
Nahezu jeder Kleinstunternehmer, jeder Mittelständler, jeder Konzern, der von sich behauptet, dass es ihm schlecht geht, wird abgefangen. Es ist ein dezidiertes Hirtenziel, alle Schäfchen am Leben zu erhalten, und sei es künstlich – wir müssen ja schließlich zusammenhalten in dieser schwierigen Zeit. Und wagen Sie es ja nicht, zu widersprechen!
Ich habe ja vollstes Verständnis dafür, dass wir uns bemühen, kranke Menschen so lange wie möglich am Leben zu erhalten. Aber kranke Wirtschaftsbetriebe? Die Natur kann sich nur regenerieren, wenn das Nicht-Lebensfähige abstirbt. Das gilt auch für Wirtschaftskreisläufe, deren Erneuerung wir auf diese Weise wirkungsvoll verhindern. Für unsere Wirtschaft ist dieser als Solidaraktion getarnte Hirtenreflex also in Wahrheit Gift. Und es ist nicht das einzige.
Aha, das geht!
Wenn Ämter zum Beispiel irgendwelche Unternehmen fast schon dazu verpflichten, ganz bestimmte Produkte zu produzieren, ist das mehr als das leise plan- und staatswirtschaftliche Signal, das Skeptiker schon lange zu vernehmen glauben. Es ist ein Fanal, das nun in der Welt steht und auch nicht mehr so schnell verschwinden wird. Schließlich haben Staat und Teile der Bevölkerung gemerkt: Aha, das geht ja!
Ich habe die größten Bedenken, dass dieses zerstörerische staatliche Eingreifen mit der Zeit sogar umgedeutet wird in ein Anzeichen, dass die Marktwirtschaft in der Krise versagt hat. Und deshalb in der nächsten heraufdämmernden Krise in den besagten Bereichen sofort und umgehend nach der staatlich gelenkten Wirtschaft gerufen wird – damit es auch ganz bestimmt unattraktiv wird, auf diesem Markt tätig zu werden.
Die Liste der materialisierten Hirtenreflexe können Sie, wenn Sie sich umschauen, noch beliebig verlängern. Doch habe ich als prinzipiell optimistischer Mensch auch Hoffnung – wenn auch nicht wegen, sondern trotz des überbordenden Hirtentums.
Bedeutungszuwachs für den Zusammenhalt
Der Begriff der Herdenimmunität ist ja unverhofft zum Kandidaten für das Wort des Jahres mutiert: Es beschreibt den Zustand, bei dem eine ausreichende Zahl an Individuen immun geworden sind und so ein indirekter Schutz für alle entsteht. Ich würde dem Wort neben der epidemiologischen gerne noch eine weitere Bedeutung zuschreiben.
Ich sehe nämlich sehr viele Initiativen, die nicht zentral hervorgebracht und gelenkt werden und gerade deswegen hervorragend funktionieren: Kleine Brauereien beliefern Apotheken mit reinem Alkohol als Desinfektionsmittel; in einem OpenSource-Projekt entwickeln 3D-Spezialisten Beatmungsgeräte, die aus dem Drucker kommen; im WirVsVirus-Hackathon machen sich tausende Programmierer gemeinsam Gedanken.
Da wirken Menschen, deren Abwehrkräfte gegen übermäßige Hirtenreflexe noch stark ausgeprägt sind und die sich auch noch genügend Freiraum erhalten konnten. Und ich denke, dass, wenn wir als Herde in der Mehrheit immun gegen unsere selbst gewählten Hirten würden, könnten wir uns auch besser über ein gesundes Maß an Zusammenhalt verständigen. Denn gegen den habe ich überhaupt nichts. Und Sie?
Lars Vollmer ist Unternehmer, Vortragsredner und Bestsellerautor. In seinem aktuellen Buch „ Der Führerfluch – Wie wir unseren fatalen Hang zum Autoritären überwinden “ stellt er den Krisen in unserem Land Ideen von Selbstorganisation und Eigenverantwortung entgegen.