Kennen Sie den „Kobra-Effekt“? Angeblich versuchte einst ein britischer Gouverneur in Indien, eine Kobra-Plage zu bekämpfen, indem er ein Kopfgeld auf jede getötete Schlange auslobte. Anfangs schien die Maßnahme erfolgreich: Immer mehr tote Kobras wurden bei den Behörden abgeliefert. Allerdings ging die Anzahl der Schlangen nicht zurück, da Teile der Bevölkerung begannen, Kobras gezielt zu züchten, um von der Belohnung zu profitieren. Nachdem der Gouverneur das Kopfgeld schließlich abgeschafft hatte, ließen die Züchter die Schlangen frei, da sie keinen Nutzen mehr für sie hatten. Dies führte dazu, dass sich die Kobra-Population durch die staatliche Maßnahme im Endeffekt stark vergrößerte.
Was ist der Kobra-Effekt in der Wirtschaft?
An diesen Kobra-Effekt musste ich denken, als ich die Diskussion um die sogenannte „Arsch-Hoch“-Prämie verfolgte: Diese geplante Prämie soll Langzeit-Arbeitslosen ausgezahlt werden, wenn sie nach einer Vermittlung mindestens ein Jahr konstant in ihrem Job beschäftigt bleiben. Es gibt sicher einige gute Grunde für und gegen diese Prämie. Woran mich dieses Thema jedoch erinnert, ist, dass wir oft versuchen, Probleme quasi mit Geld zuzuschütten, auch wenn dies nicht angemessen oder – wie beim Kobra-Effekt – sogar schädlich ist.
Ich würde beim Kobra-Effekt auch nicht von monetären „Fehlanreizen“ sprechen, sondern in schärferer Form von „perversen Anreizen“. Schließlich wird ja genau das Verhalten oder die Situation gefördert, die man eben nicht haben will. Und diese perversen Anreize sind in der Wirtschaftswelt nicht selten. Dazu gehören zum Beispiel
- CEOs, die einen „goldenen Handschlag“ bekommen, wenn ihre Firma aufgekauft wird. Das kann dazu führen, dass insgeheim ein entsprechend niedrigerer Aktienkurs angestrebt wird, der eine Übernahme wahrscheinlicher macht
- Subventionen, die eine Überproduktionen von Produkten bewirken, die sich ansonsten am Markt nicht durchsetzen würden. Dies kann dazu führen, dass wertvolle Ressourcen gebunden werden, die ansonsten für echte Innovationen zur Verfügung stehen würden
- Verkäufer, die nur für das Abschließen von Deals belohnt werden, aber nicht für den After-Sales-Service und eine gute Beziehung zum Käufer. Das kann dazu führen, dass Bestandskunden eher ignoriert werden, sogar wenn sie den Vertrag kündigen (wollen).
Die Liste ließe sich beliebig verlängern; Sie kennen sehr wahrscheinlich ähnliche Fälle aus Ihrem eigenen Unternehmen.
Wir zahlen Geld für im Grunde selbstverständliches Verhalten
Unternehmen sollten sich sehr gut überlegen, ob sie ein angestrebtes Verhalten überhaupt mit Geld prämieren wollen. Wir sind meiner Meinung nach in den vergangenen Jahren dazu übergegangen, auch selbstverständliches Verhalten mit Geld aufwiegen zu wollen. Jemand kommt regelmäßig zur Arbeit? Wir zahlen eine Anwesenheitsprämie. Jemand nimmt überhaupt eine Arbeit auf? Wir zahlen eine Antrittsprämie – was unterscheidet diese überhaupt von einer Art Bestechungsgeld?. Jemand empfiehlt einen Bekannten für einen Job? Wir zahlen eine Vermittlungsprämie.
Alle drei Beispiele sind für mich normales Verhalten, das von jedem Menschen in einem Unternehmen erwartet werden kann, auch ohne dass die Euros hüpfen. Wenn diese Perspektive bei Ihnen Störgefühle auslöst, dann vielleicht deshalb, weil wir uns in vielen Fällen angewöhnt haben, alles und jeden in Geld zu messen.
Vertrauen, Loyalität und Disziplin sind auch wertvolle Währungen
Die eben genannten Beispiele haben noch einen anderen negativen Effekt: Wenn sich die Menschen im Unternehmen erst einmal daran gewöhnt haben, dass Cash gleich Wertschätzung ist, dann kann die Wertschätzung für immaterielle Werte wie Vertrauen, Loyalität und Disziplin verkümmern. Dieselben Unternehmen, die Prämien wie Wasser ausgießen, wundern sich oft gleichzeitig, dass die „Kultur“ im Keller ist – dabei haben sie ein solches Verhalten selbst gezüchtet. Wo Cash immer King ist, bleibt wenig Raum für andere „Währungen“ der Anerkennung.
Natürlich sollte ein Unternehmen fair und nach transparenten Kriterien bezahlen. Aber Geld ist nur ein Belohnungsmechanismus unter anderen. Setzen Sie sich daher kritisch mit dem Prämiensystem im Unternehmen auseinander und fragen Sie sich: Welche Prämien machen bei uns wirklich Sinn? Welche sind überflüssig? Und welche sind kontraproduktiv, weil sie die Anzahl der Kobras nicht verringern, sondern vergrößern?