Teil IV
"Philip ging schnellen Schrittes zu dem freien Arbeitsplatz, ließ sich in die Lehne des weißen Lederstuhls fallen – sehr ausgeruht fühlte er sich nicht – und packte fein säuberlich seine Trading-Utensilien aus: sein Notizbuch, einen Apfel vom Hotelbüfett und das Buch, welches er während des Fluges angefangen hatte zu lesen. Das Notizbuch brauchte er, weil es die Rufnummern enthielt, die er heute noch wählen wollte. Zum reinen Zeitvertreib. Den Apfel wegen der Vitamine und dem Zeitvertreib. Das Buch zum Schmökern. Also auch zum Zeitvertreib.
Philip schob die schwarze Tastatur des Handelsrechners beiseite, zog die dahinter stehende glänzende weiße Tastatur zu sich und tippte – wie auch zu Hause jeden Morgen – n-tv.de in die Adresszeile des Browsers. Ja, Philip war n-tv-süchtig. Seit den Terroranschlägen vom 11. September quälte ihn die ständige Angst, dass gerade irgendwas Schreckliches passieren und er nichts davon mitbekommen würde: Heute war ...???, noch, nichts passiert. Gott sei Dank!
Von einem auf der anderen Raumseite gelegenen Handelsplatz drangen Fetzen unwissentlich geführter Selbstgespräche und unbeherrschter Kommentare eines ebenfalls von der langen Nacht noch nicht gänzlich erholten Stan zu Nick und Philip herüber.
"Was, zum Himmel ... komm schon, komm schon, komm schon ... Alter, sieh dir das an ...!", murmelte Stan gerade vor sich hin. Auf seinen linken Bildschirm hatte sich Stan den Chart des britischen Pfunds geholt, dessen komplizierter Verlauf ihm zunächst aber nichts sagte. Dann wurden seine Augen groß. Stan betrachtete fassungslos den Chart, dessen Verlauf sein Konto bedrohte. Seine Lungen fühlten sich urplötzlich an, als würden sie in Flammen stehen. War das medizinisch überhaupt möglich? Er entsann sich des roten Feuerlöschers im Flur.
Philip sah von Stan nur denselben kurzen Haarschnitt, mit dem er Stan bereits in Deutschland kennengelernt hatte. "Ist das dort täglicher Standard oder heute was Besonderes?", fragte er Nick und deutete auf Stan. Nick schmunzelte. "Bis jetzt ist das Standard. Kann sich aber in jede Richtung noch entwickeln."
Trading-Anfänger und Charts
Mit einem kurzen Kopfnicken und einem Lächeln auf den Lippen stand Philip auf und näherte sich Stans Schreibtisch, ohne dass dieser davon etwas mitbekam. Philip registrierte, wie Stan den Chart fixierte. Stans Schreibtisch war ein einziges Durcheinander aus CDs, Computerausdrucken verschiedenster Foren-Threads, aufgeschlagenen Trading-Büchern, Schreibutensilien, diversen USB-Sticks und allem möglichen anderen Krempel. Dieser Anblick schien zu beweisen, was John, wenn auch lächelnd, jedem, also auch Hofner und Philip, erzählte, wenn das Gespräch auf Stan kam: nämlich, dass dieser praktizierender Anhänger des Chaos sei. Was, ins Ernsthafte übersetzt, bedeutete: Stan war vermutlich der unordentlichste Mensch, den John bisher erlebt hatte – was Philip bereits aus Deutschland kannte und hier auch wieder bestätigt fand.
"HIMMEL- ARSCH-UND-ZWIRN, der Markt wird doch jetzt nicht ...?", drang es erneut zu Philip durch, und er sah, dass Stan sich geistesabwesend am Kinn kratzte. Ha, hier bin ich zu Hause, dachte Philip, und hervorgerufen durch Stans aufsteigende Gereiztheit erinnerte sich Philip daran, wie kindisch er selbst früher gewesen war und durch nicht geforderten Mut, übertriebene Stärke und tödlichen Aktionismus aus allen Marktbewegungen göttliche Trades zaubern wollte, welche sich im Nachgang jedes Mal lebensbedrohlich auf sein Konto auswirkten.
Philip hatte sich eigentlich vorgenommen, über die letzten Zeilen seines Buches nachzudenken, was ihm aber angesichts Stans Gereiztheit nicht wirklich gelang, denn in ihm stiegen Erinnerungen auf wie Gasblasen an die Oberfläche eines großen Tümpels und fingen an ihn einzufangen: Was er in Stan erblickte, waren seltsamerweise seine eigenen ersten Gehversuche; er erinnerte sich an die tiefen seelischen Gefahren von einst, die er spiegelbildlich nun in Stan wiedererkannte und die ihm ins Gedächtnis gerufen wurden. Es mochte wohl daran liegen, dass es bei ihm damals, so wie bei Stan heute, immer den Anschein hatte, als kommunizierte er mit den aktuell zappelnden Bars. Jeder Trading-Anfänger trug anscheinend mit Beginn seiner ersten Trades seinen eigenen Abenteuerspender mit sich herum, und dieser war darauf abgerichtet, Endorphine auszuschütten, sobald ein Chart flackerte!
Philip verstand durch seine eigenen Lehrjahre nur allzu gut, warum Stan sozusagen süchtig nach Börsenkursen war und warum er lange Zeit brauchen würde, um sich vom Ausgang der einzelnen Periode nicht mehr mitreißen zu lassen. Es würde Monate, sogar mehrere Jahre dauern, bis er sich beim Traden langweilte. In Philip entstand ein Bild, bei dem er erst Belustigung empfand, über das er aber anschließend sofort erschrak, da dies eigentlich kein Scherz war: Er hatte sich Stan gerade als kleinen Wurm vorgestellt, der von einem großen Huhn namens Chart aufmerksam betrachtet wurde. Und, während Stan noch glaubte, dieses Huhn wüsste um seine besondere persönliche Ungenießbarkeit und darum, dass es sich an ihm verschlucken würde, ahnte Philip bereits, dass dieses Huhn namens Chart vollkommen geil nach dieser Art Wurm war. Die Aufforderung musste also lauten: "Um Gottes willen, lass dich von diesen kleinen sch... Perioden nicht zu großen Schandtaten herausfordern!" Stan musste lernen, sein "zu nahes" Verhältnis zum Chart, genau wie die Hoffnung auf den Megatrade, aufzugeben und sich äußerste Zurückhaltung zur Pflicht zu machen, welche nur noch die Suche nach dem Lieblingssetup zur Folge haben durfte. Aber alles zu seiner Zeit..."