Capital: Frau Kühn, warum haben Sie eine private Hilfsaktion gestartet?
AGNIESZKA KÜHN: Die ganze Situation in der Ukraine hat mich vom Tag eins bewegt, weil ich mich mit den Ukrainern verbunden fühle. Ich bin Polin, ich bin in den Zeiten von Kriegsrecht in Polen (1981-1983) aufgewachsen, die Angst und Erzählungen meiner Eltern und Geschwister sind mir sehr präsent. Ich konnte nicht untätig zuschauen. Unser Konzern, die Mercedes-Benz Group, hat auch große Spendenaktionen gestartet, Transporter für Hilfsgüter bereitgestellt. Aber bis das in großen Unternehmen und auch bei den Hilfsorganisationen alles auf den Weg gebracht wird, vergeht einfach Zeit. Deshalb habe ich mich wenige Tage nach Ausbruch des Krieges mit einigen Kollegen privat auf den Weg von Berlin ins polnische Chotyniec zur ukrainischen Grenze gemacht. Wir hatten sechs große Transporter von der Firma dabei. So etwas hatte ich vorher noch nie selbst gefahren. Aber das ging gut.
Was haben Sie vor Ort erlebt?
Ich war sehr überrascht über die Situation an der Grenze. Während der zehnstündigen Hinfahrt hatte ich mich mental auf Bilder von Menschen in elendigem Zustand eingestellt. Aber es war ganz anders. An dem Grenzübergang herrschte zwar Chaos wie an einem großen Bahnhof. Aber vor mir standen Frauen, die aussahen wie ich. Einige hatten noch die Bluse und Hose an, die sie im Büro getragen hatten, bevor sie vollkommen überstürzt ihre Kinder abgeholt haben, in Bunker geflüchtet sind und von dort ohne oder mit wenig Gepäck zur Grenze aufgebrochen sind. Ich war vollkommen bestürzt von diesem Kontrast und werde diese Bilder nicht mehr los.
Was hat Sie am meisten berührt?
Das waren die Mütter, wie sie in dem Durcheinander, in der vollkommenen Unsicherheit und Angst, Schutz und Geborgenheit für ihre Kinder suchten. Die Augen einer Mutter in dem Moment als ich ihrer Tochter ein kleines Kuscheltier als Geschenk von meiner kleinen Tochter gegeben habe, werden mich wohl lange verfolgen. Eine andere Mutter, Krankenschwester, kam an der Grenze an, wollte uns ihre drei Kinder übergeben, hat uns gebeten, sie zu Bekannten in München zu bringen. Sie konnte nicht mitkommen, sie ist zur Grenze zurückgegangen, um in ihre Heimat zurückzugehen. „Ich habe eine Aufgabe“, sagte sie. Diese Menschen sind aus ihrem Leben gerissen worden. Sie brauchen jetzt Schutz. Aber die wollen einfach nur ihr altes Leben zurück. Wir müssen ihnen helfen, diese Zwischenzeit bis sie zurückkönnen, so gut wie möglich zu überbrücken.
Was ist dafür nötig?
Wir haben an dem Tag 36 Menschen aus der Ukraine nach Deutschland gebracht. Die Menschen sind unheimlich erschöpft, sie sind verzweifelt, aber sie sind auch unglaublich stark. Sie wollen keinen Almosen. Einige wollten zunächst nicht mal Essen von uns annehmen. Wir haben ihnen die Proviantkörbe überlassen, die sie später auch geleert haben, als wir nicht bei ihnen gesessen haben. Sie wollen ihre Würde aufrechterhalten. Einige der Frauen in unserem Konvoi haben sich zwischendurch am Rastplatz geschminkt. Ich glaube das gibt ihnen ein Stück der gewohnten Sicherheit. Es ist wichtig, dass wir ihnen auf Augenhöhe begegnen.
Die Hilfstrupps bestehen meistens aus Männern. Welche Erfahrung haben Sie auf dem Weg gemacht?
Ich bin bei Ankunft an der Grenze von geflüchteten Frauen umringt worden, die nur bei mir ins Auto steigen wollten. Viele haben panische Angst, auch vor Fremden, auch vor Männern. Deshalb ist es wichtig, dass noch viel mehr Frauen die Hilfskonvois begleiten.
Was haben Sie nach Ankunft in Deutschland gemacht?
Wir haben die Menschen zu Anlaufstellen in Breslau und in Berlin gebracht und von dort auch noch geholfen den Weitertransport zu Freunden oder Verwandten zu organisieren. Zwei minderjährige Mädchen sind dort in der Obhut der Behörden geblieben. Das konnten wir nur schwer ertragen, denn der Empfang war doch eher formal, kühl. Diese Kinder brauchen einen warmen, herzlichen Empfang. Die sorgen sich um ihre Zukunft. Im Auto haben sie uns gefragt, wie sie möglichst schnell Deutsch lernen können und wie es mit Schule und Studium weitergehen wird.
Welche Hilfsmaßnahmen sind nach Ihrer Erfahrung besonders dringend?
Wärme und Zuneigung. Die allein reisenden Jugendlichen, aber auch viele andere Geflüchtete haben Sorgen und Fragen. Die brauchen jemanden, der da ist, ihnen zuhört. Dafür sind sicherlich Profis wie Übersetzer und Psychologen nötig. Aber ich glaube, es hilft auch, wenn andere Menschen da sind, zuhören und Hilfe anbieten. Meine Telefonnummer wird mittlerweile herumgereicht, es klingelt dauernd. Manchmal sind es sehr einfache Fragen, etwa wie man von A nach B kommt. Es wäre auch hilfreich, wenn die wichtigsten Informationen zum kostenlosen Transport mit der Bahn, zum Aufenthaltsstatus oder zur Unterkunftssuche ausgedruckt und verteilt werden.