Spitzenpolitik wird scheinbar immer mehr zum Ausbildungsberuf. Ob das der Qualität der politischen Kultur in Deutschland guttut, darf bezweifelt werden. An Leidenschaft und Engagement mangelt es den Nachwuchshoffnungen der Parteien bestimmt nicht. An beruflichen Alternativen und Erfahrungen aus dem Joballtag jenseits der Politik schon eher, wenn es direkt nach dem abgeschlossenen (oder abgebrochenen) Studium auf hohe Posten geht.
Dieser Karriereweg ist verlockend. In kaum einer anderen „Branche“ können Newcomer so schnell so steil Karriere machen wie bei den alten Volksparteien, in denen Jugendlichkeit an sich bereits ein hohes Gut zu sein scheint. Aber manchmal drängt sich der Eindruck auf, dass berufliche und persönliche Reife mit diesem Maß an Einfluss nicht immer Schritt halten.
Nebentätigkeiten im Verdacht
Der Fall Philipp Amthor (CDU) zeigt, wie schnell eine Nachwuchshoffnung straucheln kann. Der zweitjüngste Bundestagsabgeordnete hegte Ambitionen auf den Ministerpräsidentenposten in Mecklenburg-Vorpommern. Dann geriet das „Talent mit Machtinstinkt“ (Tagesschau.de) wegen Tätigkeiten für das US-amerikanische IT-Unternehmen Augustus Intelligence und die Berliner Wirtschaftskanzlei White & Case unter Lobbyismus-Verdacht. „Ich bin nicht käuflich“, beteuerte Amthor in der ARD.
Ein Argument für Nebenjobs von Bundestagsabgeordneten lautet: Die Parlamentarier können Kontakt zur „realen“ Berufswelt halten. Dadurch bewahren sie sich finanzielle Unabhängigkeit und sind bei Abstimmungen wirklich nur ihrem Gewissen und nicht der Karriere im Parteiapparat verpflichtet. Aber dieses Argument verpufft, wenn gut bezahlte Nebentätigkeiten angesichts mangelnder Berufserfahrung ausschließlich dem politischen Einfluss geschuldet sind.
Unabhängig von möglichen Nebenjobs kann der Blick auf den Karriereweg „junger“ (unter 40 Jahre) Spitzenpolitiker der im Bundestag vertretenen Parteien aufschlussreich sein – allein schon deshalb, weil in offiziellen Biografien nicht immer bereitwillig über Studium und Berufserfahrung aufgeklärt wird.
Die Berufe haben junge Spitzenpolitiker erlernt
Philipp Amthor (Jahrgang 1992) hat laut seiner Internetseite von 2012 bis 2017 Rechtswissenschaften an der Ernst-Moritz-Arndt Universität Greifswald studiert. Während des Studiums war er unter anderem Mitarbeiter verschiedener Abgeordneter des Deutschen Bundestages und des Landtages Mecklenburg-Vorpommern. 2017 war Amthor als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald und für eine Wirtschaftskanzlei in Berlin tätig. Im selben Jahr wurde er zum Vorsitzenden des CDU-Stadtverbandes seiner Heimatstadt Ueckermünde ernannt. „Seit 2017 bin ich Doktorand“, informiert der Schatzmeister der Jungen Union.
Die biografischen Angaben bei den Jungsozialisten über ihren Bundesvorsitzenden Kevin Kühnert (Jahrgang 1989) sind überraschend dürftig. Abgesehen von der Laufbahn bei der SPD-Jugendorganisation ist dort nur vermerkt: „Arbeitet für ein Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses. Er engagiert sich kommunalpolitisch im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, wo er Mitglied der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) ist und verschiedene Aufgaben in der SPD übernimmt.“ Diese Zurückhaltung hat nicht etwa Methode. Bei neun von Kühnerts zehn Stellvertretern gibt es Informationen zu Studium und/oder Jobs. Kühnert hat laut dem Biografie-Archiv Munzinger ein 2009 begonnenes Studium der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft an der Freien Universität Berlin abgebrochen. Ein Studium der Politikwissenschaft an der Fern-Universität Hagen habe er nach der Wahl zum Juso-Bundesvorsitzenden ruhen lassen. Ende 2018 wurde der vermeintliche #NoGroKo-Rebell zu einem der stellvertretenden SPD-Bundesvorsitzenden gewählt. Er kassierte allerdings mit Abstand die meisten Nein-Stimmen.
Auch bei CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak (Jahrgang 1985) sind offizielle Angaben zur beruflichen Laufbahn spärlich gesät. Die CDU beschränkt sich auf ihrer Internetseite auf Ziemiaks politischen Werdegang. Er wurde 2014 Bundesvorsitzender der Jungen Union, zog 2017 in den Bundestag ein und ist seit 2018 CDU-Generalsekretär. Auf Nachfrage heißt es aus der Pressestelle: „Ziemiak studierte zunächst Jura, danach Unternehmenskommunikation und war als Werkstudent in Düsseldorf bei PriceWaterhouseCoopers tätig. Die begonnenen Studiengänge beendet Paul Ziemiak nicht.“
Lars Klingbeil (Jahrgang 1978) ist seit Dezember 2017 Generalsekretär der SPD. Nach dem Abitur 1998 leistete er laut seiner Bundestags-Biografie Zivildienst in der Bahnhofsmission Hannover. Ab 1999 studierte Klingbeil an der Leibniz Universität Hannover Politische Wissenschaft, Soziologie und Geschichte. Er machte 2004 seinen Magister. Während des Studiums arbeitete Klingbeil unter anderem im Wahlkreisbüro des damaligen Bundeskanzlers Gerhard Schröder. Anschließend war er Jugendbildungsreferent des SPD-Landesverbands Nordrhein-Westfalen (2004 bis 2005) und Büroleiter des SPD-Landesvorsitzenden Garrelt Duin (2005 bis 2009). 2005 wurde Klingbeil erstmals in den Bundestag gewählt
Tilman Kuban (Jahrgang 1987) ist seit März 2019 Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands und damit Beratender Teilnehmer des CDU-Bundesvorstands. Er hat an der Universität Osnabrück Rechtswissenschaften studiert. 2016 legte Kuban laut seiner CDU-Biografie das 2. Juristische Staatsexamen ab. Im selben Jahr begann er seine bis heute andauernde Tätigkeit als Leiter Recht und Nachhaltigkeit bei den Unternehmerverbänden Niedersachsen. 2019 verpasste der Chef der Unions-Jugendorganisation den Einzug ins EU-Parlament.
Ricarda Lang ist Jahrgang 1994 und damit das jüngste Mitglied im Bundesvorstand von Bündnis 90/Die Grünen. Sie studiert laut der Partei (Stand: Juni 2020) Rechtswissenschaften. Von 2017 bis 2019 war Lang Bundessprecherin der Grünen Jugend. Im November 2019 wurde die Studentin zur stellvertretenden Bundesvorsitzenden und Frauenpolitischen Sprecherin der Partei ernannt.
Michel Brandt wurde 1990 geboren. Damit ist er (Stand: Juni 2020) der jüngste Bundestagsabgeordnete der Linken. Brandt zog 2017 in das Parlament ein. Er studierte laut seiner Bundestags-Biografie von 2008 bis 2012 Schauspiel an der Musikhochschule in Stuttgart und erwarb einen Bachelor of Arts. Von 2012 bis 2017 war Brandt Ensemblemitglied im Badischen Staatstheater Karlsruhe und saß im Personalrat. 2016 erhielt er mit seinen Kollegen vom Bund-Verlag den Deutschen Personalrätepreis in Bronze.
Ria Schröder (Jahrgang 1992) ist Bundesvorsitzende der Jungen Liberalen und vertritt den Verband im FDP-Bundesvorstand. Sie arbeitet bei der Hamburger Kanzlei Cogito Legal, die auf Wirtschaftsrecht spezialisiert ist. Schröder hat laut ihrer Firmenbiografie an der Bucerius Law School in Hamburg studiert und das 1. Staatsexamen abgelegt. Es folgten Praktika bei der Anwaltskanzlei Norton Rose Fulbright und dem Auktionshaus Christie’s. Anschließend arbeitete Schröder den Angaben zufolge als wissenschaftliche Mitarbeiterin bei der Hamburger Kanzlei Clarius Legal. Die Juristin wurde als Datenschutzbeauftragte zertifiziert.