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Reportage Abends in Resistanbul

Die türkische Regierung bekommt die Protestbewegung nicht in den Griff. Abend für Abend versammeln sich die Istanbuler Wutbürger an verschiedenen Plätzen der Stadt.
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"Wir sollten jetzt abstimmen", sagt der Redner gedämpft ins Mikrofon. "Wollen wir uns nur einmal die Woche treffen, oder zweimal, oder jeden Abend?" Das Votum ist einstimmig. Hunderte Hände gehen hoch im Abbasaga Park. Kein lautes Wort fällt, kein Klatschen zerreißt die Stille unter dem Vollmond im Stadtviertel Besiktas. Die "Capulcu", die Revolutionäre von Istanbul, haben ein leises System der Zeichensprache entwickelt: Zwei Hände hoch, die flattern, heißt Applaus. Zwei Fäuste überkreuzt, bedeutet Nein, zwei Unterarme die sich umeinander drehen, Du wiederholst Dich.

Auf den Rängen des kleinen, von Laubbäumen umsäumten Amphitheaters sitzen dicht gedrängt junge und ältere Leute. Wie Studenten und ihre Professoren. Kreative, Intellektuelle, auch ehemalige Journalisten und Lehrer sind darunter, die aus dem Beruf wegen Zensur oder Konflikten mit den Vorgesetzten herausgerissen wurden. Maulkorb oder Kleidervorschriften: Die Gründe, warum 2,5 Millionen Bürger in 79 Städten drei Wochen lang aufbegehrt haben, sind vielfältig. Vereint sind sie in einem Ziel: Wer so arrogant und abgehoben regiert, ihnen vorschreibt, dass sie drei Kinder haben und Ayran statt Alkohol trinken sollen, der muss zurücktreten. Regierungschef Tayyip Erdogan steht für Diktat.

In der Woche nach der Zwangsräumung des Gezi Parks - einem kleinen Hain in der Betonwüste des Taksimplatzes im Herzen der türkischen Hauptstadt - ist die Bewegung dabei sich zu organisieren. Jeden Abend pilgern die Menschen in einen anderen Park. Hier macht der deutsche Pianist Daude Martello den Demonstranten Mut mit seiner Komposition "Türkiye". Im Mackar-Park bittet die Moderatorin in einem Viertel vom Flair der Pariser Champs Elysée Sprecher für Sprecher auf einen Mauervorsprung. "Wir sollten Arbeitsgruppen bilden", sagt der eine. "Wir dürfen uns nicht von der Hexenjagd der Behörden in den sozialen Medien einschüchtern lassen", sagt der nächste.

Der Abbasaga Park liegt nur wenige hundert Meter von Erdogans Regierungsbüro entfernt. Es wimmelt von Polizisten dort. Auch im Park wird einer in Zivil mithören und berichten. Aber die Bewegung ist bedacht darauf, den übereifrigen Ordnungshütern keinen Grund zu liefern, sie zu vertreiben. Selbst als der Muezzin beginnt, zum Gebet zu rufen, wird die Lautstärke des Mikrophons gedrosselt. Öffentliche Parks werden in "Resistanbul" am Abend nicht verschlossen. Dagegen gehört der Taksim-Platz schon seit Jahren zu einer Art Bannmeile, auf dem Versammlungsverbot herrscht. Am Samstagabend - zu Tausenden sind die Demonstranten zusammengeströmt - werden daher die Wasserwerfer anrollen.

Marina Zapf
Marina Zapf

Anfangs versammeln sich nur einige Dutzende "Standing Men" auf den Pflastersteinen. Sie stehen stumm und aufrecht, den Körper zur alten Oper gewandt, von deren Fassade ein überlebensgroßes Porträt des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürks auf den Platz blickt. Einige haben Bücher in der Hand. Manche stehen regungslos, Passanten reiben ihnen Sonnencreme auf die Stirn. Noch vor Einbruch der Dunkelheit quillt der Platz über. Die Menschen klatschen im Rhythmus, hüpfen auf den Zehenspitzen, rufen: Tayyib geh, dies ist erst der Anfang. Flaggen mit "Taksim Solidarity" wechseln die Hände, fliegende Händler verkaufen Mundschutzmasken. Die meisten aber kommen vorbereitet: Sie haben Tücher dabei, Gasmasken, Motorrad- oder Bauhelme im Rucksack. Denn der friedliche Aufmarsch bleibt nur so lange fröhlich, bis die Polizei anrückt.

Wo tagsüber nur einige versprengte Polizisten unter Sonnenschirmen den Gezi-Park bewachen, steht plötzlich eine geschlossene Reihe von Bereitschaftspolizisten. Drei Wasserwerfer rollen auf die Menge zu. Ein Polizeitrupp schlägt eine Schneise in die Menge. Die Menschen bleiben stehen, stemmen sich dagegen, werfen den gepanzerten Fahrzeugen Nelken entgegen. Am nächsten Tag werden Bilder zirkulieren, wie Einzelne sich mit ausgebreiteten Armen dem Wasserstrahl ergeben. Aufgeben will keiner, aber die Menschen weichen in die umliegenden Gassen zurück, werden in Imbissstuben aufgenommen, laufen wieder auf den Platz, sobald der Wasserstrahl sich in Richtung der Fußgängerzone Istiklal entfernt.

Triefende Menschen atmen auf. Heute ist das Nass nicht mit ätzenden Mitteln versetzt, das brennende rote Flecken auf der Haut hinterlässt. Aber wenig später kommen die gefürchteten Tränengasgranaten zum Einsatz, mit denen die Polizisten auf die Menschen zielen - und sie treffen. "Sie gehen mit uns um wie mit Ungeziefer", sagt ein Demonstrant. Entlang der Istiklal beginnt ein zähes Katz- und Mausspiel. Dutzende Polizisten jagen kleine Gruppen in den engen verzweigten Gassen der Altstadt. "Sie kommen", tönt die Warnung. Die Menschen laufen. Den Tränengasschwaden ist nicht zu entkommen. Touristen in Restaurants halten sich Servietten vor den Mund. Draußen ist die Luft durchtränkt. Die Augen tränen, der Hals brennt ätzend. Dazwischen junge Burschen, die die Marktlücke erkannt haben und Taucherbrillen feil bieten.

Der Spuk wiederholt sich - Abend für Abend ging es so - bis der Gezi Park geräumt war. Neuer Rollrasen wurde ausgelegt, 2000 Blumen und eine Handvoll neuer Bäume gepflanzt. Viele hatten gedacht, die Polizei würde sich nun zurückhalten. Stattdessen geriert sich die Regierung mehr und mehr wie in einem Polizeistaat, der unverhältnismäßige Mittel gegen vermeintliche "Terroristen" und "Plünderer" (Capulcu) einsetzt. Eine regierungsnahe Zeitung berichtet von einer Liste mit 50 Namen von Künstlern, Journalisten, Intellektuellen, die zu den Aufrührern gerechnet werden. Im fernen Trabzon verurteilt Tayyip Erdogan die "internationalen Mächte", die am Bosporus wie in Brasilien die Menschen zur Revolte anstifteten. Aber dass seine eigenen Bürger revoltieren, will er nicht begreifen. Noch sind sie überrascht von der eigenen Wucht - sinnen auf einheitliche Slogans, Symbole und Medienstrategien. Aber sie werden weitermachen. Der Geist ist aus der Flasche.

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Fotos: © Reuters; Trevor Good

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