Streitgespräch Woran krankt der Dax?

Berenberg-Fondsmanager Henning Gebhardt (r.) diagnostiziert beim Dax „Konstruktionsfehler“ – ETF-Experte Thomas Meyer zu Drewer von Comstage (l.) sagt: „Der Index funktioniert genau, wie er soll“
Berenberg-Fondsmanager Henning Gebhardt (r.) diagnostiziert beim Dax „Konstruktionsfehler“ – ETF-Experte Thomas Meyer zu Drewer von Comstage (l.) sagt: „Der Index funktioniert genau, wie er soll“
© Ramon Haindl
Nullzinsen, Hochkonjunktur und Vollbeschäftigung helfen nichts: Seit vier Jahren kommt der Dax nicht vom Fleck. Zwei wichtige Fondsmanager streiten, woran der deutsche Leitindex krankt

Henning Gebhardt ist als Fondsmanager Experte für deutsche Aktien der Privatbank Berenberg
Thomas Meyer zu Drewer leitet das Geschäft mit ETFs der Commerzbank-Tochter Comstage, bald Teil der Société Générale

Capital: Herr Gebhardt, Herr Meyer zu Drewer: Schon vor fast vier Jahren stand der Deutsche Aktienindex Dax bei 11.000 Punkten. Was stimmt nicht mit dem Index?

HENNING GEBHARDT: Es kommt gerade einiges zusammen, was Aktien belastet: Italiens Schulden, der Brexit, steigende US-Zinsen, Sorgen vor einem Handelskrieg und der Umbruch in der Automobilbranche. All diese Probleme treffen den Dax besonders.

Warum?

GEBHARDT: Er enthält nun mal große Autohersteller wie Volkswagen, BMW oder Daimler. Deren Geschäftsmodell wackelt, und sie sind eng vernetzt mit anderen Dax-Unternehmen. Die Autokonzerne haben zusammen zwar direkt nur ein Gewicht von rund elf Prozent im Dax, aber ihre Gewinnbeiträge liegen bei rund einem Drittel.

THOMAS MEYER ZU DREWER: Das ist doch nichts Besonderes. Es liegt im Wesen eines Index, dass darin Branchen gut laufen und andere harte Zeiten durchleben. Genau deshalb wollen viele auch in einen Index investieren, weil sie darüber nicht urteilen können und wollen.

Mit anderen Indizes kommt der Dax aber nun seit Jahren nicht mehr mit. Die Aktien weltweit haben in den vergangenen fünf Jahren rund zweieinhalbmal so stark zugelegt wie der Dax.

GEBHARDT: Stimmt. Es gibt auch nicht den einen Grund. Auch der Großteil der anderen Dax-Konzerne hängt stark an der Weltwirtschaft und am Export. Umgekehrt fehlt es an stark wachsenden Technologieunternehmen, die unabhängig von der Konjunktur sind. Wir haben da mit SAP ein fantastisches Unternehmen, jüngst kam Wirecard dazu – und dann?

MEYER ZU DREWER: Das sollte niemanden sorgen, der einfach den Index kauft. Themen wie Digitalisierung oder künstliche Intelligenz beschränken sich nicht auf die Werte des Technologiesektors, da sagt die Branche wenig aus. Praktisch alle Dax-Konzerne investieren in die Digitalisierung, einschließlich der Banken. Weil sie müssen.

GEBHARDT: So einfach ist es nicht. Die Firmen gehen unterschiedlich damit um. Nehmen wir die Einzelhändler Kaufhof und Karstadt. Die haben die Bedrohungen aus dem Internethandel auch kommen gesehen. Und sind dennoch aus dem Dax verschwunden, wie viele andere alte Industriewerte auch. Das muss man schon einzeln prüfen.

Sind mit den herben Verlusten der Banken, Versorger und Autohersteller die Risiken schon ausreichend eingepreist?

GEBHARDT: Ich fürchte, nein. Das heißt aber nicht, dass ich da weitere Kursverluste erwarte. Ich möchte nur nicht das Risiko eingehen falschzuliegen, wenn es andere Firmen mit verlässlichem Wachstum gibt. Es gibt im Dax viele optisch günstige Werte, extrem niedrige Kurs-Gewinn-Verhältnisse, gerade im Autobereich. Aber die Nachhaltigkeit dieser Gewinne ist aus meiner Sicht höchst ungewiss. Dieser Markt wird neu verteilt werden, und es ist schwierig zu sagen, wer als Gewinner hervorgehen wird.

MEYER ZU DREWER: So ist es. Und wer den Aufwand scheut, sich dazu ein Urteil zu bilden, fährt mit einem Index gut.

Ist das so? Lässt man Dividenden außen vor, pendelt der Dax-Kursindex schon seit 2000 nur mit extremen Schwankungen seitwärts. Das frustriert Anleger.

GEBHARDT: Aber warum sollte man die Dividenden außen vor lassen? Der Dax wird langsam zum Hochdividenden-Index. Bei aller Kritik: Die Vergangenheit zeigt, dass man mit langen Horizonten immer gute Renditen mit deutschen Aktien erzielt. Und wenn man in Krisen kauft, sogar fantastische. Ich fürchte aber, der Dax hat tatsächlich Konstruktionsfehler.

Welche?

GEBHARDT: Die größten fünf Titel vereinen knapp 50 Prozent Indexgewicht. Laufen die nicht – aktuell zum Beispiel Bayer –, wird es schwer für den Index. Defensive Werte, also solche mit einem konjunktursicheren Geschäft, stellen nur gut zehn Prozent. Damit ist man mit dem Dax nicht gut diversifiziert. Auch mit Blick auf die Unternehmensgrößen. Der kleinste Wert, aktuell ist das Thyssenkrupp, hat einen Börsenwert von 10 Mrd. Euro. Viele wachstumsstarke Firmen und Hidden Champions sind dagegen in der zweiten und dritten Reihe des Markts.

MEYER ZU DREWER: Was für Sie ein Nachteil ist, sehe ich als Vorzug. Für internationale Investoren sind deutsche Aktien maximal oft eine wichtige Beimischung, weil deutsche Aktien in einem globalen Portfolio nicht fehlen dürfen. Globale Anleger wollen genau dieses Profil haben: groß, exportstark, idealerweise gefüllt mit Autoherstellern. Das bekommen sie durchaus gut in einem einzigen Index, dem Dax. Was sich darunter abspielt, ist einem asiatischen Großinvestor mitunter nicht so wichtig. Ganz davon abgesehen, dass auch die Dax-Konzerne in der ganzen Welt tätig sind, auch in Schwellenländern. Heimische Investoren bekommen so Schwellenländerfantasie, ohne dort anlegen zu müssen.

Viele Dax-Aufsteiger sind in den vergangenen Jahren nach der Aufnahme eingebrochen. Warum?

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GEBHARDT: Das ist auch eine Funktion seiner Größe von nur 30 Werten. Das macht die Hürden für den Aufstieg sehr hoch. Bis sie im Dax landen, müssen sich die Aktien schon sehr gut entwickelt haben. Zudem hat sich dann oft eine Eigendynamik entwickelt aus Wachstum und großer Aufmerksamkeit. Es gäbe eine simple Möglichkeit, das zu vermeiden: auf den kaum bekannten Index HDax zu setzen. Der enthält nicht die 30, sondern die 100 größten Titel Deutschlands. Das ist eine viel bessere Abdeckung.

MEYER ZU DREWER: Offenbar ist für Sie auch passives Investieren eine gute Option? Das freut mich, Herr Gebhardt!

GEBHARDT: Da sind wir doch keine Dogmatiker. Natürlich setzen wir in unserer Privatbank auch ETFs in der Vermögensverwaltung ein, wo es Sinn macht. Mein Job als Fondsmanager ist es, Mehrwert zu bieten mit deutschen Aktien. Viele glauben, deshalb sei man auf der Suche nach dem nächsten Verdoppler. Das ist Quatsch. Es geht um Selektionsentscheidungen: Wo schrumpft das Geschäft, steht vor Umwälzungen, ist zu teuer? Aktuell halten wir etwa nur 15 der 30 Dax-Werte, bevorzugt Technolgie-, Konsum-, Pharmatitel. Ich erinnere mich beispielsweise gut, dass im Jahr 2000 Finanzwerte auf 40 Prozent Gewichtung kamen. Versorger hatten noch vor einigen Jahren 15 Prozent Gewicht. Dann kollabierte nach Fukushima deren Geschäftsmodell. Einen Index zu schlagen, das funktioniert oft mit Vermeidung, nicht mit großen Wetten.

MEYER ZU DREWER: Das sagt sich natürlich leicht. Aber wer weiß so was vorher? Ich kann mich erinnern, dass man US-Banken vor knapp zehn Jahren totgesagt hat. Danach wuchsen Gewinne und Kurse stark überproportional. Und hier punktet der Index für den Langfristinvestor. Auch wenn das langweilig klingt: Die Gewinner wachsen im Gewicht, die Verlierer sind vorher nur schwer zu finden.

GEBHARDT: Das Karussell dreht sich auch bei Indizes immer schneller. Die Hälfte der Dax-Gründungsmitglieder gibt es nicht mehr. Im Schnitt verbleiben Werte im US-Leitindex S&P 500 noch 13 Jahre.

MEYER ZU DREWER: Was ist daran schlecht? Das zeigt doch die Anpassungsfähigkeit, genau so erfüllen sie ihren Zweck. Es ist natürlich Unfug zu sagen, dass aktive Selektion nicht funktioniert. Sie können das, Herr Gebhardt …

GEBHARDT: … Oh, vielen Dank!

MEYER ZU DREWER: Moment: Aber ob sich das für die Anleger auch auszahlt, ist die andere Frage. Die besten Investoren, selbst Warren Buffett, liegen teils jahrelang daneben. Wer sich für aktives Management entscheidet, weil er dem Dax nicht traut, muss nicht nur einen Manager erwischen, der den Index nach Abzug der Gebühren schlägt – was schon schwer genug ist. Sondern dieser Strategie auch treu bleiben. Da bietet der Index langfristig einfach bessere Renditeaussichten.

Muss die Deutsche Börse ihr Regelwerk ändern, um den Dax durchlässiger und breiter aufzustellen?

MEYER ZU DREWER: Warum? Der Index erfüllt seinen Zweck und trägt zu Recht den Namen „Leitindex“. Und gegenüber anderen Leitindizes wie dem Dow Jones und dem Nikkei-Index ist der Dax sauber konstruiert.

GEBHARDT: Das sehe ich kritischer. Es gibt doch einige Ungereimtheiten. Der Gaskonzern Linde mit Sitz in Dublin ist im Index, Airbus mit Sitz in Toulouse nicht. Ist das nachvollziehbar und im Interesse aller Investoren? Da habe ich Zweifel. Aber gefragt sind natürlich auch Anleger. Die sollten in meinen Augen nicht auf die Chancen der Titel hinter den größten 30 verzichten.

In den Dax sind über ETFs rund 16 Mrd. Euro investiert. Wird die Symbiose aus dem prominenten Leitindex und immer mehr passiven Geldern zu einem Risiko?

MEYER ZU DREWER: Nein. Die Herausforderung ist eher, dass immer mehr automatische, algorithmusgetriebene Handelssysteme an den Märkten agieren. Die kaufen Dax-Aktien, wenn die Kurse stark steigen, und verkaufen, wenn sie wieder fallen. Oft prozyklisch. ETFs sind nur ein Instrument, um in Märkte zu investieren.

GEBHARDT: Da muss ich den Index und die ETF-Branche tatsächlich in Schutz nehmen. Die Debatte dreht sich zu oft um Vehikel, obwohl sie in der Sache geführt werden muss: Wie können Privatanleger sich einfacher am Aktienmarkt beteiligen, egal ob aktiv oder passiv? Und, kritisch betrachtet: Wie gefährlich ist der automatisierte Handel?

Herr Meyer zu Drewer, dürften Ihre Kinder ihr Taschengeld in einen aktiven Fonds für deutsche Aktien anlegen, zum Beispiel in den von Herrn Gebhardt?

MEYER ZU DREWER: Natürlich. Das ist kein Vergehen, für das ich das Taschengeld streiche (lacht). Mein Punkt ist: Sie sollten einen Plan haben und die Disziplin, ihn durchzuhalten. Vor allem wenn der Markt einbricht. Halten sie dann mit einem ETF durch? Bestens. Halten sie mit den Fonds von Herrn Gebhardt durch? Auch gut!

Und wenn Ihr Nachwuchs Dax-ETFs kaufen will, Herr Gebhardt?

Gebhardt: Klar. Das Wichtigste ist, überhaupt in Aktien anzulegen, egal ob aktiv oder passiv. Dass dies nur so wenige tun, ist unser Kernproblem in Deutschland.

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