Paul Marsh ist emeritierter Professor of Finance der London Business School. Seit 2000 bearbeitet er das „Global Investment Returns Yearbook“ mit Elroy Dimson und Mike Staunton und analysiert Anlageerträge ab dem Jahr 1900 – seit 2009 für die Credit Suisse.
Professor Marsh, Sie untersuchen seit vielen Jahren die langfristigen Entwicklungen an den Kapitalmärkten. Ist die Corona-Krise vergleichbar mit dem Platzen der Dotcom-Blase oder der globalen Finanzkrise?
PAUL MARSH: Der Schwarze Freitag an der Wall Street 1929 war anders als das, was während der Ölkrise 1973/74 oder der globalen Finanzkrise im Jahr 2008 passiert ist. Jede Krise ist anders, jede hat vollkommen unterschiedliche Ursachen und Charakteristika. Doch fast alle haben etwas gemeinsam: Die Aktienmärkte brachen sehr schnell ein, was extrem erschreckend für Anleger ist. Aber sie erholten sich auch wieder, meistens ebenfalls recht schnell.
Und was erleben wir derzeit?
Bei Corona haben wir einen kompletten Schock aus dem Nichts heraus erlebt. Im Gegensatz zu früheren Bärenmärkten, also Phasen mit fallenden Kursen, ist es diesmal sehr schwierig abzusehen, wie lange dieser anhalten wird. Mir scheint, dass die Kurse nach dem ersten Absturz eine Balance verschiedener Meinungen abbilden.
Vor dem Corona-Crash sprach niemand von einer Blase. Könnte er also glimpflicher ablaufen als der Dotcom-Crash zu Beginn des Jahrtausends?
Viele Kommentatoren sagen, die Aktienmärkte seien vor dem Kursrutsch überbewertet gewesen, und das habe alles noch schlimmer gemacht. Ich stimme dieser Ansicht nicht zu. Der Grund dafür, dass die Marktbewertungen hoch schienen – egal ob man auf das Kurs-Gewinn-Verhältnis oder andere Kennzahlen schaut –, waren die sehr niedrigen Realzinsen. Und wenn diese sehr tief liegen, kann man hohe Bewertungskennziffern erwarten. Ich denke nicht, dass wir aus überbewerteten Märkten in die aktuelle Krise gekommen sind, sondern aus recht fair bewerteten Märkten.
Weltweit gingen die Kurse um rund ein Drittel runter. War es das, oder können sie noch weiter abrutschen?
Anleger mussten in der Tat schon einige Schmerzen ertragen. Aber ein Verlust von rund einem Drittel ist nach historischen Standards eher wenig. Während der globalen Finanzkrise fiel unser Welt-Index, der dem MSCI-World-Index ähnlich ist, real um fast 60 Prozent, beim Platzen der Dotcom-Bubble waren es 44 Prozent. In der kurzen Geschichte des 21. Jahrhunderts haben wir also zwei viel schlimmere Bärenmärkte erlebt. Das heißt nicht, dass es noch viel schlimmer kommen muss, aber es ist ziemlich wahrscheinlich.
Sollten Privatanleger jetzt trotz der Verluste investiert bleiben?
Wenn Sie ein langfristiger Investor sind, der aktuell keine Liquidität benötigt, dann wären meine Ratschläge: Verlieren Sie nicht die Nerven. Versuchen Sie nicht, clever zu sein. Bleiben Sie einfach im Markt. Und schauen Sie nicht ständig ins Depot : Sie werden dann möglicherweise Angst bekommen und die falschen Dinge tun. Denn wer nach dem Kursrutsch ausgestiegen ist, wird es mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht schaffen, zum richtigen Zeitpunkt wieder einzusteigen.
Damit treten Sie aber vielen Anlegern auf die Füße, die sich für sehr clever halten…
Märkte drehen oft sehr schnell und zu einem Zeitpunkt, an dem viele Menschen so viel Vertrauen verloren haben, dass sie nicht mehr an die Erholung glauben. Niemand kann sagen, ob wir schon den Tiefpunkt erreicht haben. Aber: Die Märkte werden sich erholen. Das kann auch mal fünf Jahre dauern, und einige Unternehmen werden dann nicht mehr existieren. Auf der anderen Seite sehen wir aber beispiellose Maßnahmen der Regierungen und Notenbanken zur Unterstützung.
Aber deshalb ist auch die Frage naheliegend: Soll ich wieder einsteigen?
Es ist sehr schwierig, einen Wendepunkt zu erkennen. Wenn wir zurückschauen, dann erscheint dies einfach: Es gibt einen Knall, und danach setzt die Erholung ein. Aktuell weiß niemand, ob der Knall im März auch schon der letzte war. Es gibt eine Menge Mythen rund um Bärenmärkte, und ich denke, einige sind richtig, wie der Punkt der Kapitulation, an dem alle glauben, die Kurse steigen nie wieder an. Aber es ist in Echtzeit extrem schwierig zu bewerten, wann dies passiert.
Gibt die Volatilität, also die Schwankungsintensität des Marktes, Hinweis auf eine Erholung?
Aus der Vergangenheit wissen wir, dass die Volatilität, gemessen etwa am VIX-Index, sehr schnell wieder zu ihrem Durchschnittswert zurückkehren kann. Aber bei der Interpretation der Volatilität ist Vorsicht geboten, da man erst im Nachhinein weiß, wann ihr Höhepunkt wirklich erreicht war. Die von Corona ausgelöste Phase erhöhter Volatilität hält möglicherweise noch fünf bis sechs Monate an. Das ist ein Markt, der starke Nerven erfordert.
Und was ist mit den Gelassenen, die jeden Monat einen festen Betrag in Aktien anlegen?
Einfach fortsetzen. Ein Teil des Geldes wird bei niedrigen, ein anderer in hohe Bewertungen fließen, sodass sich ein Durchschnittswert-Effekt einstellt.
Auf was sollte man beim Kauf von Einzelaktien achten?
Die Firmen mit dem höchsten Verschuldungsgrad sind aktuell meist auch die mit dem höchsten Risiko. Grundsätzlich ist dies aber nicht der richtige Zeitpunkt für die Anpassung eines Aktienportfolios. Was immer man tut, es kann einen aktuell in die falsche Richtung führen. Wir wissen, was am meisten leidet, beispielsweise Freizeit und Reise, und wir wissen, was sich widerstandsfähiger gezeigt hat wie Versorger, Lebensmittelhersteller und -händler. Wenn es eine Erholung gibt, dann steigen meistens die Aktien am stärksten, die zuvor am stärksten verloren haben. Doch wenn man mitten in der Krise drinsteckt und nicht weiß, wie es weitergeht, dann ist es nicht der richtige Zeitpunkt zur Umschichtung.
Sie haben langfristige Aktienrenditen untersucht. Was können Anleger aktuell daraus lernen?
Für die Berechnung der Rendite aller Anlagen ist der reale Zinssatz, also der Marktzins abzüglich der Inflationsrate, die Grundlage. Dazu kommt ein Zuschlag für eine gewisse Form von Risiko, das man mit einer Anlage wie Aktien eingeht. Derzeit sind die realen Zinssätze sehr niedrig, und sie waren dies schon, bevor Covid-19 auftauchte. Dies wird sehr lange so bleiben, weshalb Aktienanleger nur den Risikoaufschlag erwarten können. In den vergangenen 120 Jahren lag die Risikoprämie im Schnitt bei 4,3 Prozent pro Jahr.
Und in Zukunft?
Die Schätzung von Elroy Dimson, Mike Staunton und mir ist, dass die Risikoprämie für Aktien in den nächsten Jahrzehnten rund 3,5 Prozent pro Jahr betragen wird. Zwischendurch wird es immer wieder Phasen mit höheren und auch niedrigeren Risikoprämien geben. Derzeit sind wir in einer Situation mit einer sehr hohen Risikoprämie, weil die Märkte riskanter sind und Investoren risikoavers.
Und wenn sich alles beruhigt?
Die Prämie wird wieder sinken. Wir können dann gern das nächste Interview führen, und ich werde sagen: Die Risikoprämie für Aktien wird in den nächsten 50 Jahren im Jahresschnitt 3,5 Prozent betragen.
Das Interview ist in Capital 5/2020 erschienen. Interesse an Capital ? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay