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Kolumne Unter der Oberfläche

Die größte Überraschung im Börsenjahr 2016: Die Hoffnung auf Normalität ist verschwunden
Christian Kirchner
Christian Kirchner
© Gene Glover

Christian Kirchner ist Frankfurt-Korrespondent von Capital. Er schreibt an dieser Stelle regelmäßig über Geldanlagethemen. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen

Falls noch jemand Gründe gesucht hat, warum es sich kaum lohnt, seine Anlageentscheidungen an kurzfristige Nachrichtenlagen auszurichten: Die vergangenen zwölf Monate liefern einen schönen Anschauungsunterricht dafür.

Wir erinnern uns: Vor nicht einmal zwölf Monaten war die überraschende Abwertung der chinesischen Währung der Grund für heftige Kapitalmarktturbulenzen. In den Monaten danach machte die Sorge die Runde, eine Kette von überfälligen Zinserhöhungen in den USA könnte die Schwellenländer in eine Krise stürzen. Schließlich brachen die Märkte gleich zu Jahresbeginn ohne erkennbaren äußeren Anlass ein, um dann im Frühsommer den Schock des „Brexit“-Referendums zu verdauen.

Und was ist unter dem Strich passiert? Eine ganze Menge. Allerdings nicht an der Oberfläche der Kapitalmärkte, sondern darunter.

Per saldo etwa steht der Deutsche Aktienindex DAX, der Preis eines Fasses Öl, der Wechselkurs US-Dollar/Euro, der Index für chinesische Standardwerte sowie von US-Standardwerten ungefähr da, wo sie vor einem Jahr standen. Die Zinsen sind – entgegen der Konsenserwartungen - noch einmal etwas tiefer gefallen, Bankaktien weiter abgerutscht, Gold hat einen starken Anstieg vollzogen.

Aber sonst? Wer vergangenen Sommer in ein einjähriges Koma gefallen wäre, hätte an den Kapitalmärkten nicht viel verpasst.

Verändert hat sich etwas anderes – und weitreichenderes: die Hoffnung auf eine Rückkehr zur Normalität in Sachen Zinsen, Geldpolitik, unkonventionelle Notenbankmaßnahmen ist verschwunden. Und damit das Kernargument vieler Optimisten, sich nicht so viele Gedanken zu machen um Negativzinsen und Anleihenaufkäufe.

US-Leitzinsen

Kommen 2016 zwei, drei oder gar vier Zinsschritte? Das war die Debatte noch zum Jahreswechsel. Mitte August steht der Zähler bei: Null. Investoren mögen zwar keine Zinserhöhungen, aber sie wären auch klares Signal für das Vertrauen gewesen, das die US-Notenbank in die Wirtschaft hat. Das hat sie offenbar nicht.

Langfristzinsen

Jahrelang hielt sich unter Strategen die Theorie, die Notenbanken könnten allenfalls die kurz- und langfristigen Anleihenrenditen bewegen. Für die langen Laufzeiten spielten Wachstums- und Inflationserwartungen die viel wichtigere Rolle. Diese Theorie ist regelrecht kollabiert: In der Schweiz haben 30-jährige Staatsanleihen negative Renditen, in Japan hat die überraschende Einführung von Negativzinsen im Januar die Renditen 30-jähriger Papiere von 1,2 auf zeitweise 0,2 Prozent sinken lassen, und der Bund kann sich inzwischen auch auf zehn Jahre zu negativen Zinsen Geld leihen.

EZB

Ein baldiges Ende der Anleihenaufkäufe durch die EZB oder gar einer Zinswende in der Eurozone ist inzwischen kein Thema mehr, sondern auf mindestens 2020 aufgeschoben. In Großbritannien ist die Stimmung komplett gekippt, statt über Zinserhöhungen geht es nur noch um weitere Lockerungen.

Konsum- und Anlegerverhalten

Mehr und mehr zeichnet sich ab, dass die Effekte von Zinsen nahe oder unter null auf Verbraucher überschätzt werden. So steigen die Sparquoten in Ländern mit niedrigen oder gar negativen Zinsen wie der Schweiz, Schweden oder Japan tendenziell an, wie jüngst das Wall Street Journal mit Verweis auf Daten der OECD errechnet hat. Wenn die Hoffnung auf eine Normalisierung der Geldpolitik auf Jahre aufgeschoben ist, werden die unbeabsichtigten Folgen der Null- und Negativzinsen eine umso größere Beachtung bekommen. Machen wir dazu ein Gedankenspiel: Wenn die Notenbanken den Einlagenzins noch weiter in den negativen Bereich drücken und die Banken diese auch weiterreichen – kommt dann womöglich ein Punkt, an dem Sparer das Geld eben nicht wie gewünscht mit vollen Händen ausgeben, sondern stattdessen lieber Anschaffungen und den Konsum einschränken, weil sie der Lage der Wirtschaft immer weniger trauen?

Vereinfacht gesprochen: Auch dem letzten Strategen und Anleger muss nun klar sein, dass wir Akteure in einem Spiel mit sehr hohen Einsätzen sind. Das Argument für eine Aktienanlage verengt sich immer stärker auf die „Alternativlosigkeit“ und den Renditevorsprung vor Anleihen, zumal die Schwierigkeiten am Aktienmarkt unübersehbar werden: Im abgelaufenen zweiten Quartal sind die Unternehmensgewinne in Europa im Schnitt um acht und in den USA um knapp vier Prozent gesunken, und die Erwartungen für das Gesamtjahr werden auf beiden Seiten des Atlantiks laufend nach unten angepasst.

Kluge Investoren überhören das Grundrauschen der Märkte, das Wechselspiel mit den Nachrichten, richten ihre Strategie eben nicht auf das kurzfristige Zucken aus, sondern wählen langfristige Strategien und rentable Anlageformen. Allein: Selten war das so schwierig wie heute.

Umso erstaunlicher, dass die nicht gerade für ihre Risikofreude bekannten deutschen Privatanleger allmählich umdenken. Laut den im Juli veröffentlichen Bundesbank-Daten über das Anlageverhalten privater Haushalte haben diese im ersten Quartal 2016 mehr in Aktien gesteckt, als sie in Bankeinlagen investiert oder in Bargeld vorgehalten haben – ein Effekt der sich in den letzten sechs Jahren lediglich in einem weiteren Quartal (III/2015) beobachten ließ. Ist das nun ein eher gutes oder schlechtes Zeichen?

Urteilen Sie einfach selbst.

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