Siemens Energy kommt nicht zur Ruhe: Die Nachrichtenlage der vergangenen Tage hat den Aktienkurs des Dax-Konzerns bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr um fast 40 Prozent einbrechen lassen – und ihn auch direkt wieder aus dem Rekordtief geholt. Für Anleger ist es ungeachtet der komplexen Konzernstrukturen kein einfaches Unterfangen, hier den Überblick zu bewahren. Deshalb nochmal von vorne.
Nach einer beeindruckenden Rally seit der zweiten Jahreshälfte 2022 brach die Aktie von Siemens Energy im Juni massiv ein. Zuvor hatte das Unternehmen mitgeteilt, nicht länger an seiner Ergebnisprognose für das laufende Jahr festhalten zu können. Grund dafür waren Qualitäts- und Kostenprobleme bei der spanischen Windkrafttochter Siemens Gamesa. Konkret ging und geht es um erhöhte Ausfallraten bei bestimmten Windturbinen-Komponenten, die Kosten laut Medienberichten von bis zu 1 Mrd. Euro nach sich ziehen könnten.
Siemens Energy verfügt Aufträge in Rekordhöhe
Nach einer kurzen Atempause die nächste Verunsicherung für Anleger: Ende Oktober wird öffentlich, dass Siemens Energy mit der Bundesregierung über mögliche Staatshilfen in Form von Garantien verhandelt. Der Aktienkurs bricht erneut ein. Im Gespräch sind einem Bericht der „Wirtschaftswoche“ zufolge Bürgschaften von bis zu 15 Mrd. Euro. Der Energiekonzern befürchtet nach den Windturbinen-Verlusten von Gamesa offenbar, keine Garantien von Banken für neue Großprojekte zu erhalten. Und an diesen mangelt es keineswegs.
Siemens Energy profitiert vom weltweiten Ausbau erneuerbarer Energien und sitzt mit Ende Juni auf einem Rekordauftragsbuch von 109 Mrd. Euro. Die Kunden bestellen Kraftwerke, Übertragungstechnik, Windkraftanlagen. Da es sich dabei um Großprojekte mit langen Bauzeiten und noch längeren Garantie- und Service-Versprechen handelt, gehen auch die Kunden ins Risiko. Sie vertrauen darauf, dass Siemens Energy die Projekte tatsächlich fertigstellen und die Versprechen einhalten kann. Deshalb leistet nicht nur der Auftraggeber eine Anzahlung, sondern auch der Auftragnehmer muss Sicherheiten in Form von sogenannten Avalen leisten – die besagten Garantien. Mutterkonzern Siemens, der sich 2020 von seiner ehemaligen Energiesparte getrennt hat und heute noch 25 Prozent hält, wehrte sich bislang dagegen, sich an einem Garantiepaket zu beteiligen.
Weniger Tage später erfahren Anleger, dass Siemens Energy womöglich doch eine Finanzspritze seiner Mutter erhält: Die Nachrichtenagentur Bloomberg berichtet, dass Siemens einen Teil der Aktien-Beteiligung von Siemens Energy an einem indischen Gemeinschaftsunternehmen kaufen könnte. Übernimmt die Siemens AG das Aktienpaket, würde das nicht nur die Konzernstruktur entflechten, sondern auch Milliarden in die Kassen von Siemens Energy pumpen – noch dazu in Form von Eigenkapital. Der Aktienkurs gewann wieder an Fahrt und legt innerhalb einer Woche bis Donnerstagabend um 30 Prozent zu. Die YTD-Performance beläuft sich damit auf minus 48 Prozent.
Wie Analysten die Aktie beurteilen
Die Privatbank Berenberg hat die Einstufung für Siemens Energy mit Blick auf den kolportierten Indien-Verkauf an die Konzernmutter auf „Buy“ mit einem Kursziel von 25 Euro belassen. Die Beteiligung habe einen Wert von 3,2 Mrd. Euro und sei bislang weitgehend „übersehen“ worden. Mit Blick auf die aktuelle Lage sei die Beteiligung eine Schlüsselposition sowohl für Siemens Energy als auch für die Siemens AG.
Die britische Investmentbank Barclays hat die Einstufung für Siemens Energy auf „Overweight“ mit einem Kursziel von 19 Euro belassen. Mit dem Verkauf würde der Energietechnikkonzern seine Bilanz deutlich stärken, schreibt Analyst Vladimir Sergievskiy. Unter dem Strich wäre der Konzern hinreichend kapitalisiert.
Anders sieht man das bei Bernstein Research: Das US-Analysehaus hat die Einstufung (noch vor Bekanntwerden des möglichen Indien-Deals) auf „Underperform“ mit einem Kursziel von 12 Euro belassen. Der Ausverkauf sei gerechtfertigt, denn das Geschäft des Energietechnikkonzerns bleibe außerordentlich herausfordernd, so Analyst Nicholas Green. Er empfiehlt Anlegern, nicht in diese Kursdelle zu kaufen, da er mit einem weiteren Abwärtstrend rechnet.
Von insgesamt 16 Analysten, die laut dem Finanzportal Marketscreener den Titel beobachten, empfehlen sieben den Kauf, einer den Verkauf und die übrigen acht Käufern dazu, den Titel zu halten. Ihr mittleres Kursziel liegt bei 16,26 Euro. Das ist ein Aufwärtspotential zum letzten Schlusskurs von rund 97 Prozent.