Die Deutschen sind doch vermögender als gedacht. Das legt zumindest eine Auswertung nahe, die feststellt: Bisher wurde das Betriebs- und das Immobilienvermögen arg unterschätzt. Eine gute Nachricht ist das aber nicht, denn es bedeutet: Die Ungleichheit zwischen Armen und Reichen wächst
Es gibt einen Graben, einen großen Graben sogar, zwischen Armen und Reichen hierzulande. Es gibt sehr viele Menschen, die wenig Geld besitzen und auf der anderen Seite ganz Wenige, die ein großes Vermögen angehäuft haben. Aber an zwei Fragen mühen sich Ökonomen schon seit Jahren ab: Wie tief ist dieser Graben wirklich – und wird er nun größer oder nicht? Verstärkte sich in den vergangenen Jahren also die Ungleichheit in Deutschland, oder zementiert sie sich eher? Eine Auswertung der Ökonomen Moritz Schularick, Charlotte Bartels und Thilo Albers hat Daten vorgelegt, die zeigen: Zumindest die Kluft zwischen unten und ganz oben ist gewachsen. Zuletzt wohl sogar deutlich.
Bevor es um die konkreten Zahlen geht, zuerst einmal diese Anmerkung: Nicht umsonst tun sich viele Verteilungssoziologen und Ökonomen schwer damit, den Reichtum der Deutschen verlässlich zu beziffern. Denn öffentliche Daten dazu gibt es nicht. Also müssen sie sich mit Daten aus Befragungen behelfen. Die stammen oft vom Sozio-ökonomischen Panel (SOEP). Der Knackpunkt an den Daten: Da sie nur alle paar Jahre erhoben werden, sind sie meist immer schon etwas älter, wenn Detailauswertungen erscheinen. Und: Die Daten der wirklich Reichen gehen dort gar nicht ein. Denn die verweigern allzu oft die Aussage über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse. Deshalb können auch diese Daten immer nur Näherungswerte sein.
Für ihre Auswertung zogen Schularick (Universität Bonn), Bartels (DIW) und Albers (Humboldt Uni Berlin) Statistiken aus insgesamt rund 125 Jahren heran. Die neuesten Daten stammen aber auch bei ihnen nur von 2018. Und da eine Haupterkenntnis ihrer Studie war, dass vor allem auch das Immobilienvermögen der Bundesbürger bisher im Wert arg unterschätzt worden ist, dürfte auch ihre Schätzung bereits wieder veraltet sein. Denn gerade in den vergangenen vier Jahren haben sich die Immobilienpreise noch einmal enorm nach oben bewegt. Deshalb darf man davon ausgehen, dass die Vermögenswerte für Hausbesitzer noch einmal nach oben anzupassen sind. Aber das nur am Rande. Nun aber zu den Ergebnissen:
Die Hälfte besitzt nichts
Insgesamt kann man in den Daten und Grafiken ablesen, dass die Ungleichverteilung von Vermögen – zwischen den ganz Reichen und jenen, die kaum etwas besitzen – über den Gesamtzeitraum enorm abgenommen hat. Allerdings nur bis zur deutschen Wiedervereinigung, seitdem nimmt sie wieder beachtlich zu. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitze demnach aktuell rund 25 Prozent aller Vermögenswerte. Die unteren 50 Prozent dagegen, also die ärmere Hälfte aller Bundesbürger, kommen auf gerade einmal drei Prozent des Gesamtvermögens. Das ist der Stand für die neuesten verfügbaren Daten von 2018.
Zu Beginn der Datenerfassung, also um die Jahrhundertwende von 1900 war die Lücke ungleich größer: Da besaß das reichste ein Prozent sogar die Hälfte des Gesamtvermögens. Also prozentual doppelt so viel wie heute. Die ärmste Hälfte des Landes dagegen kam auf einen Anteil von fünf Prozent. Das ist jedoch fast doppelt so viel wie jetzt. Was insgesamt heißt: Die ganz große Lücke zwischen Arm und Reich hat sich zwar etwas geschlossen, weil die Reichen prozentual etwas weniger von den Gesamtwerten besitzen. Aber dafür konnten die Armen dennoch nichts hinzugewinnen. Im Gegenteil, sie verloren von dem Wenigen, was sie besaßen sogar noch einen ziemlich großen Anteil. Die Oberen gewannen also hinzu, die Unteren aber verschlechterten sich.
Das reichste Prozent dafür umso mehr
Dadurch aber ist die Konzentration von Vermögen beim obersten ein Prozent der Bevölkerung sogar noch einmal deutlich größer geworden. Der Graben ist also sozusagen zwar etwas kleiner geworden, aber dafür noch tiefer: Denn insgesamt besitzen die Top-10-Prozent der Reichen heute im Schnitt zirka 100-mal so viel Geld wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung. Vor gut 125 Jahren waren sie im Schnitt „nur“ 50-mal so reich.
Über wie viel Geld aber reden wir hier genau? Auch das beziffert das Forscherteam: Die Top-10-Prozent verfügen demnach im Durchschnitt über knapp 2 Mio. Euro pro Kopf. Hier darf man allerdings davon ausgehen, dass diese Zahl reichlich zurückhaltend angesetzt ist und in Wahrheit bedeutend höher liegen dürfte. Die untere Hälfte der Ärmsten dagegen hat so wenig Geld auf dem Konto, dass sich der Balken dazu in der Grafik kaum von der Nulllinie abhebt.
Spannend dürfte aber für viele das Vermögen der Mittelschicht sein. Das ist jener Anteil der Bevölkerung, der mehr besitzt als die ärmsten 50 Prozent, aber weniger als die obersten 10 Prozent. Also jene 40 Prozent dazwischen. Ihr Durchschnittsvermögen liegt aktuell bei rund 350.000 Euro, sagt die Auswertung. Ist das nun viel oder wenig?
Die Mittelklasse besitzt wenigstens ein Haus
Es klingt nach recht viel, aber damit ist auch nicht nur das flüssige Geld auf dem Konto gemeint, sondern sämtlicher Besitz. Bei der Mittelschicht ist es vor allem Immobilieneigentum, das für die 350.000 Euro sorgt. Erinnert man sich zurück, dass diese Summe im Jahr 2018 ungefähr dem Wert eines durchschnittlichen Einfamilienhauses entsprach – zumindest wenn man die sieben Metropolen dabei ausklammert – dann besitzen also jene rund 40 Prozent der Bevölkerung, die man zur Mittelschicht zählt, ein Haus oder eine Wohnung – aber auch nicht viel mehr als das. Das flüssige Vermögen auf dem Konto dürfte auch bei ihnen recht übersichtlich sein.
Und wer wissen möchte, wie die Entwicklung seit der Wiedervereinigung aussieht, der wird auch staunen: Seitdem veränderte sich die Lage für die ärmsten 50 Prozent so gut wie gar nicht. Die Reichsten dagegen konnten ihr Vermögen nahezu verdoppeln, in nur 25 Jahren (1993 bis 2018). Und die Mittelklasse legte immerhin rund 80 Prozent an Besitz zu, denn im Jahr 1993 besaß sie pro Kopf nur rund 225.000 Euro. Auch hier wird deutlich: Die Steigerung hängt vor allem mit dem Immobilienboom zusammen. Der sorgte seit 2010 dafür, dass sich der Wert von Wohneigentum um nahezu diese Quote steigerte. Und das sieht man auch sehr deutlich in den Grafiken der Forscher. Sie beziffern das Immobilienvermögen der Deutschen auf insgesamt rund 9 Billionen Euro (2018). Im Jahr 1993 lag es eher bei 3 Billionen.
Firmenbesitz wurde bisher unterschätzt
Bei den Reichen dagegen sei das Vermögenswachstum hauptsächlich auf Firmenbesitz zurückzuführen. Vor allem seit 2010 habe sich die Bewertung von Betriebsvermögen und Kapitalanteilen an Unternehmen ungefähr verdoppelt, belegen die Daten. Von rund 2 Billionen Euro auf rund 4 Billionen. Die Zunahme an Reichtum wird ebenfalls stark auf Wertpapiervermögen zurückzuführen sein, also auf Aktienbesitz, so die Forscher.
Interessant ist nun, wie sich die Werte im Gesamtzeitraum verschoben haben, einmal seit 1895, aber auch noch einmal seit der Wiedervereinigung 1990. Der Vermögensanteil der Reichsten stieg zuerst einmal moderat an bis zur Jahrhundertwende 1900, und zwar von rund 45 auf 50 Prozent des deutschen Gesamtvermögens. Seitdem aber hat er sich konsequent verringert, und zwar seit dem Ersten Weltkrieg. Insbesondere die zwei Weltkriege haben das Vermögen der Reichsten geschmälert. Vor allem, was das Betriebsvermögen betrifft. Aber auch in der Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre gingen erhebliche Werte verloren, das wird jedoch vorwiegend Aktienvermögen oder Bargeld gewesen sein. Beides verlor damals durch Hyperinflation und Börsencrash enorm an Wert.
Vermögenssteuern machten das Land gleicher
Während der Nachkriegszeit dagegen, so die Forscher, sei die Bunderepublik ein sehr egalitäres Land gewesen. Eines der egalitärsten sogar unter den Industrienationen. Vor allem die Vermögenssteuer, die zum gerechteren „Lastenausgleich“ nach dem Krieg gedacht war, habe erheblich dazu beigetragen.
Die Erkenntnis ist besonders heute interessant, wo wieder viel über Verteilungsgerechtigkeit gesprochen wird. Sowie über die Frage: Wer sollte die Kosten für die vielen aktuellen Krisen tragen und wen könnte man stärker beteiligen, wenn man nicht über eine zunehmende Staatsverschuldung alles der jüngeren Generation aufbürden will? Eine stärkere Vermögensbesteuerung jedenfalls trug zumindest historisch nicht zu weniger Wirtschaftsleistung bei, so legen die Daten der Nachkriegszeit nahe – die schließlich die Zeit des Wirtschaftswunders war.
Seit der Wiedervereinigung wächst die Ungleichheit
Bemerkenswert ist aber auch, dass die Kluft zwischen den Oberen und den Unteren seit 1993 wieder größer wird, also seit der Wiedervereinigung: Seitdem ist der Anteil, den die reichsten 10 Prozent am Gesamtvermögen haben, von rund 20 Prozent auf erneut fast 23 Prozent gewachsen. Denn die deutsche Einheit habe eine relativ egalitäre aber ärmere Bevölkerung (im Osten) zusammengebracht mit einer wohlhabenderen Bevölkerung (im Westen).
Sieht man sich die Daten der Bundesrepublik im internationalen Vergleich an, so schwimmt Deutschland eher unauffällig im Mittelfeld mit. In Amerika ist die Konzentration von Vermögen deutlich höher, in skandinavischen Ländern deutlich niedriger. Trotzdem haben alle eines gemeinsam: Die beschriebene Tendenz, dass die Ungleichverteilung seit einigen Jahren wieder zunimmt, zeigt sich im Grunde in allen anderen Ländern genauso.