Noch im vergangenen Jahr wurden Kryptowährungen und vor allem der Bitcoin als vermeintlich sicherer Hafen gehandelt. Wie die zurückliegenden Monate gezeigt haben, war dies nur Wunschdenken. Auch wegen des inzwischen deutlich größeren institutionellen Engagements reagiert der Kryptomarkt ähnlich wie Aktien. Dabei erweisen sich die hochspekulativen Münzen nicht selten als Vorlaufindikator für die ebenfalls riskanten Technologiewerte.
„Die 40-jährigen Höchststände bei der Inflationsrate sind daher ebenfalls wichtig, um die Perspektiven an den Märkten beurteilen zu können“, meint Norbert Betz, Leiter der Handelsüberwachung der Börse München/Gettex. Weltweit springen die Lebenshaltungskosten an mit der Folge, dass Ausgaben strenger priorisiert werden. Krypto-Spekulationen zählen dabei zu den ersten Anlageklassen, um freie Mittel zu erhalten. „Von dieser Seite könnte der Verkaufsdruck im Herbst somit weiter zunehmen, falls die Inflation hoch bleibt“, ergänzt Betz.
Hohe Energiepreise verteuern das Bitcoin-Mining
Auf der anderen Seite wird mit den steigenden Energiepreisen das Bitcoin-Schürfen für Miner weniger lukrativ und zu einem Verlustgeschäft. „So kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu Zwangsverkäufen“, erklärt Gil Shapira, Chefstratege beim Broker Etoro. In Deutschland belaufen sich die Kosten, um einen Bitcoin zu schürfen, auf rund 50.000 Dollar, während sie in Österreich, den USA und China mit rund 20.000 Dollar im Bereich des aktuellen Kursniveaus liegen.
Neben diesen allgemeinen Risiken gibt es einige Kryptomarkt-spezifische Unsicherheitsfaktoren. Anleger der 2014 in Konkurs gegangenen Börse Mt. Gox erhalten rund 140.000 Bitcoin als Entschädigungszahlungen. Auch hier dürfte die Versuchung groß sein, zumindest teilweise Gewinne zu realisieren. Zudem werden in den kommenden Wochen auch Neuigkeiten zur Regulierung der Kryptowährungen aus den USA erwartet.
Unter dem Strich bleibt somit wie am Aktienmarkt das Umfeld für die Digitalwährungen schwierig. Schaut man in die vergleichsweise kurze Historie des Bitcoin, werden die Aussichten nicht besser. In der Vergangenheit bildete der Preis meist 500 Tage vor dem nächsten Halving ein Tief aus. Die nächste Halbierung steht Ende März 2024 an. Übertragen auf die aktuelle Ausgangslage würde dies ein mögliches Tief im Oktober/November dieses Jahres erwarten lassen.
Reißt Ethereum das Steuer herum?
Große Hoffnungen ruhen daher auf dem Ethereum-Merge: Mitte September soll der Konsensmechanismus vom energieintensiven Proof-of-Work auf Proof-of-Stake umgestellt werden. Schätzungen zufolge wird dann nur noch ein Tausendstel der bisherigen Energie benötigt. Das wichtigste Ereignis in der Krypto-Welt könnte nach Meinung von Optimisten sogar dazu führen, dass künftig institutionelle Investoren, die nach ESG-Kriterien für nachhaltiges Investieren anlegen müssen, auch auf Ethereum zurückgreifen können. Ob ein erfolgreicher Merge die angeschlagene Stimmung drehen kann, bleibt aber offen. Immerhin stehen 30 Prozent der 100 größten Krypto-Währungen um mindestens 90 Prozent unter ihrem Rekordhoch.