Ausgerechnet das globale Krisenjahr 2020 dürfte den größten Ansturm von Privatanlegern auf die Börsen seit langem ausgelöst haben. Vor allem im Frühjahr meldeten Banken und Broker in Deutschland Rekordzahlen an Transaktionen und an Kunden, die neue Depots eröffneten. Allein die ING, Marktführer bei den Direktbanken in Deutschland, verzeichnete 210.000 Neueröffnungen von Wertpapierdepots im ersten Halbjahr und damit schon mehr als im gesamten Jahr 2019. Auch die Zahl der Wertpapierkäufe und -verkäufe stieg sprunghaft an. „Im gesamten Jahr 2019 lag die Zahl bei 11,5 Millionen“, sagt Thomas Dwornitzak, Leiter Sparen und Anlegen ING Deutschland, ntv.de im Dezember. „Bereits heute liegt die Zahl bei knapp doppelt so vielen Trades im Vorjahresvergleich.“
Andere Direktbanken und Onlinebroker berichten von einem ähnlichen Andrang von Neukunden. Dazu kommen ganz neue Player: die sogenannten Smartphone- oder Neobroker. Allein Trade Republic, der wahrscheinlich größte unter diesen neuen Anbietern in Deutschland, dürfte innerhalb dieses Jahres laut Schätzung der Experten von finanz-szene.de seine Nutzerzahl auf rund 500.000 mehr als verfünffacht haben - und das ohne, dass die etablierten Institute Kundenverluste zu verzeichnen hätten. Noch liegen keine vollständigen Zahlen für das gesamte Jahr vor, doch die verschiedenen Meldungen von Banken und Brokern lassen erahnen, dass sich weit über eine Million Menschen in Deutschland erstmals an die Börse gewagt haben. Ein Großteil von ihnen, genau zu dem Zeitpunkt, als die Aktienmärkte im Frühjahr dramatisch eingebrochen waren.
Dieser Boom hat selbst Experten erstaunt. „Es war schon überraschend, dass so viele Leute eingestiegen sind, gerade nachdem die Kurse so stark gefallen waren. Aber damit haben sie genau das richtige Gespür gehabt“, sagt Uta-Bettina von Altenbockum, Sprecherin des Deutschen Aktieninstituts, das sich für eine Stärkung der in Deutschland traditionell nicht sehr ausgeprägten Aktienkultur einsetzt.
Nicht zum Spielen gekommen
Was die laut einer Untersuchung der Bankeninitiative „Pro Aktie“ aus dem Sommer meist jungen Anleger gerade zu dem Zeitpunkt massenhaft an die Börse trieb, als die Corona-Krise die Finanzmärkte erreichte, bleibt letztlich unklar. Mutmaßungen zufolge begannen viele junge Leute aus Langeweile und Neugier während des ersten Lockdowns im Frühjahr, auf ihren Handys mit Aktien zu zocken. So wie auch Onlinespiele hohe Zugriffszahlen verzeichneten. Allerdings passt der Begriff zocken gar nicht für das Verhalten der meisten dieser neuen Börsenanleger - zumindest in Deutschland.
Zu den Privatanlegern, die zwar nicht zum allerersten Mal ein Wertpapier kauften, aber den Corona-Crash nutzten, um „richtig am Aktienmarkt einzusteigen“, gehört Kim. Der Sozialpädagoge aus Berlin hatte schon zuvor nach Möglichkeiten gesucht, Erspartes anzulegen , das ihm aus Nebenjobs während des gerade abgeschlossenen Studiums geblieben war. „Aktien und Börsen waren in meinem Umfeld lange überhaupt kein Thema“, berichtet er ntv.de. Doch Kim hatte sich entschlossen, das gesparte Geld und monatlich weitere Beträge langfristig anzulegen. Je mehr er sich mit dem Thema beschäftigte, desto sicherer war er sich, dass Aktien für ihn auf lange Sicht das beste Verhältnis von Risiko und Ertrag boten. Als dann die Kurse im Frühjahr massiv einbrachen, verfolgte er die Börsennachrichten bereits genau. „Ich dachte mir: Das ist meine große Einstiegschance“, sagt Kim. In mehreren Schritten investierte er den Großteil dessen, was er bis dahin noch als in Cash hielt, in Fonds und einige Einzelaktien.
Genau wie er dachten und handelten im abgelaufenen Jahr viele Sparer, die sich mit dem Thema Geldanlage bereits beschäftigt, aber den Schritt an die Börse bislang nicht gemacht hatten. „Das enorme Interesse an Wertpapieren erklären wir uns einerseits mit der Volatilität an den Märkten und andererseits mit dem Niedrigzinsumfeld. Viele Kunden haben das Kurstief als Einstiegsgelegenheit genutzt und Wertpapierhandel in Zeiten mager verzinster Sparprodukte als sinnvolle Ergänzung zum 'klassischen Sparen' entdeckt“, sagt Dwornitzak. Zum Zocken nutzt nur eine Minderheit ihre neuen Depots. „Den größten Teil ihrer Investitionen legen sie in Aktien an, dann viel in ETFs und andere Fonds“, sagt Matthias Hach, Bereichsvorstand für Marketing, Digital Banking & Brokerage der Commerzbank der unter anderem zuständig ist für die Direktbank Comdirect und den Onlinebroker Onvista. „Riskantere gehebelte Produkte spielen in ihren Depots nur eine untergeordnete Rolle.“
Der Corona-Kleinanleger-Boom ist zwar noch zu frisch für eine abschließende Bewertung, doch es gibt Hinweise, dass er sich als nachhaltiger herausstellen könnte als frühere Hochphasen beim Aktieninteresse der Deutschen. „Viele besitzen nun seit einem dreiviertel Jahr erstmals Aktien. Wie viele davon langfristig dabei bleiben, muss sich erst noch zeigen“, sagt von Altenbockum. Aber: „Optimistisch stimmt mich, dass viele Junge dabei sind und offenbar nicht nur spielen, sondern sich für langfristigen Vermögensaufbau und Altersvorsorge interessieren.“
Hach sieht ein „ganz anderes Bild als etwa Anfang der 2000er-Jahre “. Im Gespräch mit ntv.de sagt er: „Das Verhalten dieser neuen Anleger zeigt, dass sie sehr viel informierter und geübter agieren, als das bei Börsenneulingen zu anderen Zeiten der Fall war. Wir sehen, dass diese Neukunden ihre Anlagen diversifizieren, ihre Positionen absichern und auch einmal einen Teil ihrer Gewinne realisieren, wenn die Kurse stark gestiegen sind.“
„Tonalität ist nicht ekstatisch“
Damit unterscheidet sich das Anlegerverhalten aktuell in Deutschland wohl nicht nur von früheren Hype-Phasen, sondern auch von der Situation derzeit in den USA. Millionen junger Neubörsianer handeln dort nicht nur Aktien, sondern auch teils riskante Optionsscheine und andere Finanzderivate unter anderem mit der beliebten Trading-App Robin Hood . Das führte nicht nur zu kuriosen Erscheinungen, wie dem zeitweise raketenartigen Kursanstieg bei der Aktie des insolventen Autovermieters Hertz, sondern auch einige unbedarfte Anleger in den finanziellen Ruin. Für einen Aufschrei sorgte der Selbstmord eines jungen Robin-Hood-Users, dessen Konto nach einer verunglückten Finanzwette einen hohen sechsstelligen Minusbetrag aufwies.
Einen vergleichbaren Börsenhype wie in den USA, wo in Foren und sozialen Medien angebliche Experten den Anlegern unendlich steigende Kurse versprechen und zu immer riskanteren Spekulationsgeschäften verleiten, gibt es in Deutschland allerdings nicht. „Die Tonalität in den Medien, den Börsenbriefen und Foren ist nicht ekstatisch“, lobt Commerzbank-Vorstand Hach. Zudem seien Privatanleger in Deutschland gut geschützt. „Beim Anlegerschutz ist in den vergangenen Jahren viel passiert. Kleinanleger können in Deutschland im allerschlimmsten Fall ihren eingesetzten Betrag verlieren, aber nicht mehr. Zumindest sofern sie keinen Kredit aufgenommen haben.“
Für Börsenneuling Kim hat sich der Einstieg in der Krise gelohnt. Sein Depot liegt am Jahresende insgesamt deutlich im Plus. Trotz einiger Fehlgriffe, wie dem Kauf von Wirecard-Aktien, kurz vor dem Zusammenbruch des Skandalkonzerns. Der Sozialarbeiter will nicht nur sein Vermögen großteils langfristig in Aktien anlegen. Auch Geschwister und Freunde, denen die Börse noch vor kurzem völlig fremd war, hat er inzwischen für das Thema begeistern können.
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf ntv.de