Die Reihe an Unternehmen, mit denen sich Hindenburg Research im vergangenen Jahr anlegte, ist lang und namhaft: die Adani Group um den indischen Unternehmer Gautam Adani, der Zahlungsdienstleister Block um Twitter-Gründer Jack Dorsey und die Icahn Enterprises um Wall Street-Koryphäe Carl Icahn. Kein Ziel schien groß genug für Hindenburg und dessen Gründer Nathan Anderson, keine Taktung zu eng.
Einmal monatlich kam ein neuer Report mit neuen Angriffszielen oder weiteren Hintergründen. Bis zum 7. November 2023. Seit diesem Tag und einer Attacke gegen das chinesischen Flugtaxi-Unternehmen Ehang, veröffentlichte das Unternehmen nichts mehr. Beobachter fragten sich schon, worauf sich Hindenburg so lange vorbereite. Am Donnerstag folgte die Antwort darauf: eine Shortselling-Attacke gegen das amerikanische Mental Health-Unicorn Lifestance.
Wie für Hindenburg üblich, lieferte das Unternehmen ein langes Dossier mit Vorwürfen gegen das Unternehmen. Der führende Anbieter von „mentaler, verhaltensbezogener und emotionaler Gesundheit“, so beschreibt sich Lifestance selbst, ist laut Hindenburg Research massiv überbewertet und benötige dringend Liquidität. Außerdem glaubt Hindenburg nicht an die von Lifestance kommunizierte Kündigungsrate, den sogenannten „Churn“, der deutlich über dem Marktniveau liege. Kurzum: Das Unternehmen habe langfristig keine Zukunft.
Aktie fällt nach Shortseller-Attacke
Lifestance-Aktien fielen kurz nach Veröffentlichung des Berichts zunächst um 20 Prozent auf 4,74 Dollar. Später erholte sich der Kurs und lag zu Börsenschluss bei 5,64 Dollar. Das Unternehmen ging im Juni 2021 an die Börse und war zum Start mit 7,5 Mrd. Dollar bewertet worden. Einen Monat später erreichte die Bewertung ihren Höhepunkt bei 9 Mrd. Dollar. Danach ging es nur noch abwärts, wobei Lifestance auch heute noch mit 2,3 Mrd. Dollar bewertet wird. Das Unternehmen ist damit immer noch ein „Unicorn“, also ein Unternehmen, das mehr als 1 Mrd. Dollar wert ist.
Lifestance stellt Dienste für die psychische Gesundheit bereit und ist letztlich ein Plattform-Modell. Es verbindet Patienten sowohl mit persönlichen als auch virtuellen psychatrischen Diensten. Dazu zählen sowohl Psychotherapeuten als auch Psychiater, die auch Medikamente verschreiben dürfen.
An diesem Punkt setzt auch der Shortseller Hindenburg an – und kritisiert, dass Lifestance nicht genau ausweise, welche Anteile jeweils Psychiater und Psychiotherapeuten unter den kooperierenden Spezialisten ausmachen. Für die Marge bedeute das einen relevanten Unterschied. Einem Unternehmensinsider zufolge, den Hindenburg in seinem Schreiben zitiert, seien die Margen bei Psychotherapeuten „demütigend niedrig“, in etwa „wie bei Maniküre- und Friseur-Salons“.
Lifestance hat die Verteilung letztmals 2021 angegeben und erklärt, dass 66 Prozent der Leistungen dem Therapiebereich zuzuordnen seien. Hindenburgs Berechnungen zufolge sind dies aber inzwischen 79 Prozent, was entsprechend auf die Gewinne drücke.
Hindenburg moniert schwache Bilanz
Noch offensichtlicher sei allerdings die schwache Bilanz. Im Q3-Report gab Lifestance einen Verlust von 188 Mio. Dollar für die vergangenen zwölf Monate an. Dazu kommen Schulden und Leasingverpflichtungen von 482 Mio. Dollar. Insgesamt lag das kumulierte Defizit bei 716 Mio. Dollar – während der Cash-Bestand gerade mal 42,6 Mio. Dollar betrug.
Das wäre insofern kein Problem, wenn Lifestance ab sofort Gewinne schreiben würde. Damit rechnet Hindenburg aber nicht. Der quartalsweise Cash-Burn lag zuletzt bei 33,7 Mio. Dollar. Dazu kommen Rückstellungen aus Rechtsstreitigkeiten in Höhe von 42 Mio. Dollar, die Ende des ersten Quartals 2024 Realität werden könnten. Der „Runway“, also die Zeit, bis einem Unternehmen das Geld ausgeht, sei entsprechend knapp – und Hindenburg sieht nur limitierte Möglichkeit, den Cash-Bestand zu füllen. Es sei eine „Red flag“, dass Lifestance innerhalb von drei Jahren dreimal den Finanzvorstand ausgetauscht habe.
Daneben führt Hindenburg noch eine Reihe weiterer Gründe auf, warum das Geschäftsmodell weniger attraktiv ist als es scheint. So sei die Abbruchquote von Behandlungen, die „Churn Rate“, mit 28 Prozent höher als der Branchenschnitt von 23 Prozent. Das liege laut Hindenburg auch daran, dass die Beratungsqualität schlecht sei.
Bei einem Selbsttest sei ein Hindenburg-Angestellter nach 13 Minuten gefragt worden, ob er bereit sei, Medikamente einzunehmen. Nach 32 Minuten sei die Einnahme des Pfizer-Medikaments Zoloft empfohlen worden – ein möglicherweise abhängig machendes Arzneimittel gegen Depression und Angstzustände – und das, obwohl der vermeintliche Patient angegeben habe, seit einigen Tagen wieder positiver gestimmt zu sein. Frühere Mitarbeiter von Lifestance sollen das Geschäftsmodell gegenüber Hindenburg als „Kriegs-Medizin“ bezeichnet haben.