Der Dax-30-Index lag am Freitag letzter Woche bei 10.860 Punkten – weit unter seinem Wert vom 20. Februar (13.660), aber auch ein gutes Stück über seinem Tief vom 18. März (8.440). Für die relative Stärke des Index mitten in der Corona-Krise gibt es Erklärungen wie Sand am Meer. Die Pessimisten halten das Ganze für eine irrationale Übertreibung, die Optimisten für einen Vorboten des V-förmigen Aufschwungs in der Realwirtschaft. Eine Tatsache übersehen die einen wie die anderen: Der Dax-30-Index spiegelt die Lage der Volkswirtschaft in der jetzigen Situation relativ ungenau wider. Es sind vier große Konzerne, die allein für ein gutes Drittel der gesamten Marktkapitalisierung sorgen: SAP bringt einen Börsenwert von 133 Mrd. Euro auf die Waage, Linde kommt auf 88 Mrd. Euro, die Allianz auf 71 Mrd. Euro und Siemens ungefähr auf genauso viel.
Die Aktien dieser vier Konzerne sorgen für ein Stück Stabilität in diesen Zeiten. Alle vier leiden zwar unter der Corona-Krise, aber bisher bei weitem nicht so stark wie die meisten anderen Unternehmen. Das gilt vor allem für SAP und Linde. Siemens und die Allianz halten sich im oberen Mittelfeld, was die die Belastungen für die Gewinne in diesem Jahr betrifft. Daneben gibt es eine ganze Reihe anderer Konzerne, die bisher nur einen relativ geringen Rückgang der Jahresgewinne erwarten. Vonovia und die Deutsche Börse rechnen sogar mit stabilen Gewinnen wie prognostiziert.
Die Autoindustrie wird überschätzt
Die öffentliche Wahrnehmung ist jedoch eine ganze andere. In den Medien orientiert man sich hauptsächlich an der Autoindustrie und ihren Zulieferern, die nach dem Stillstand der Bänder in ihren Fabriken viele Milliarden Euro verloren haben und vor einer unsicheren Zukunft in den nächsten Monaten stehen. Die drei großen Hersteller VW, Daimler, BMW und der Zulieferer Continental kommen im Dax-30 jedoch nur auf eine Marktkapitalisierung von rund 150 Mrd. Euro – weit weniger als die Hälfte des Gewichts, das die vier größten Unternehmen mitbringen. Was die Beurteilung der Börse betrifft, lohnt es sich also, die Rolle der Autoindustrie nicht zu überschätzen. Viele Kleinanleger aber tun genau das.
Die deutsche Autoindustrie hält sich durch die Lobbyarbeit ihres schlagkräftigen Verbandes und die stetigen Medienauftritte ihrer Top-Manager in den Schlagzeilen. Mit der schnellen Forderung nach staatlichen Kaufprämien steht sich an der Spitze des Subventionswettlaufs. Von anderen Konzernen hört man dagegen fast nichts. Sie nehmen zwar staatliche Transfers durch Kurzarbeiterregelungen mit, rufen aber darüber hinaus nicht nach Staatshilfen. Nicht wenigen von ihnen halten sich, auch im Vergleich zu ihren Wettbewerbern im Ausland, gar nicht so schlecht in der Krise. Die meisten von ihnen geben zwar keine Prognose für das laufende Jahr ab, aber sie dürften gut in der Gewinnzone bleiben, wenn nicht noch weitere Katastrophen an der Pandemiefront kommen.
Natürlich kann man trotzdem trefflich darüber streiten, ob das jetzige Dax-30-Niveau auf zu viel Hoffnung beruht oder nicht. Ob wir den endgültigen Ausverkauf bereits gesehen haben oder nicht, entscheidet sich hauptsächlich durch die täglichen Zahlen des Robert-Koch-Instituts. Mit sehr starken Schwankungen muss man rechnen. Von einer völlig irrationalen Übertreibung an der Frankfurter Börse reden aber wohl wieder einmal hauptsächlich diejenigen, die einen Einstieg zu niedrigen Kursen auch dieses Mal verpasst haben.
Bernd Ziesemerist Capital-Kolumnist. Der Wirtschaftsjournalist war von 2002 bis 2010 Chefredakteur des Handelsblattes. Anschließend war er bis 2014 Geschäftsführer der Corporate-Publishing-Sparte des Verlags Hoffmann und Campe. Ziesemers Kolumne erscheint regelmäßig auf Capital.de. Hier können Sie ihm auf Twitter folgen.