Keine Frage: Wir würden einen Dax-Auguren von geschulten Kräften abholen lassen, der uns, nur in einer Badehose bekleidet, vor der Frankfurter Börse mit einem Megafon die kommenden zwei Börsenwochen anhand des Gräserpollenflugs vorhersagen würde. Steht er allerdings auf dem Parkett, trägt eine Krawatte und begründet seine Kurzfristprognose elaboriert mit den US-Zinsen, dem Ölpreis und dem wahrscheinlichen Ausgang der kommenden Notenbanksitzung, steigert das seine Glaubwürdigkeit drastisch. Nicht aber seine Treffsicherheit, wo denn der Dax in zwei Wochen steht. Es steigert auch nicht seine Relevanz für einen Langfristanleger.
Das ist eine unbequeme Erkenntnis. Dass Kursprognosen auf kurze Sicht – und kurze Sicht heißt: alles zwischen einigen Sekunden und fünf Jahren – kaum möglich sind, ist ein Gedanke, mit dem sich Aktienanleger nur schwer anfreunden können. Um in den Genuss der langfristig hohen Renditen zu kommen, muss man sich dem Auf und Ab der Kurse aussetzen, ob man will oder nicht. Daher behelfen wir uns mit allerlei Indikatoren, Korrelationen und saisonalen Mustern, um zumindest den Anschein der Kontrolle über die Lage zu haben.
Dass Kurzfristprognosen nicht helfen, ist aber auch eine wichtige Erkenntnis, um nicht den Überblick zu verlieren. Und das kann schon einmal passieren, wie der Blick auf die letzten Monate besonders gut zeigt: Stellen Sie sich bitte einmal kurz vor, Sie wären vor genau einem Jahr, also im Mai 2017, im Besitz einer Glaskugel gewesen. Diese Glaskugel hätte Ihnen ermöglicht, alle großen politischen und wirtschaftlichen Ereignisse der kommenden zwölf Monate korrekt vorauszusagen, nur nicht die Aktienkurse.
Im konkreten Fall hätte das bedeutet: Sie hätten also vorab gewusst, dass die US-Zinsen über alle Laufzeiten hinweg rund einen Prozentpunkt anziehen werden und es für zehnjährige US-Staatsanleihen wieder über drei Prozent Rendite gibt. Sie hätten gewusst, dass die Gefahr eines Handelskriegs zwischen den mächtigsten Volkswirtschaften der Welt steigt, das geopolitische Risiko bis hin zu einem möglichen Krieg im Nahen Osten ebenso und US-Präsident Trump sich verbal wie politisch weiter radikalisiert. Sie hätten gewusst, dass der Ölpreis stark anzieht auf über 80 US-Dollar je Fass. Dass Argentinien wieder den Währungsfonds anpumpen muss und dass Schwellenländerwährungen stark unter Druck geraten. Und dass Deutschland den Höhepunkt des Wachstums bereits gesehen haben dürfte und die Rezessionsrisiken von niedrigem Niveau aus steigen.
Auch wenn ich diesen Vergleich schon mehrfach strapaziert habe, er bleibt unverändert gültig: Nehmen wir all dies zusammen – die perfekte Glaskugel hätte Ihnen dennoch nicht geholfen, daraus vermeintlich naheliegende Schlüsse für den Aktienmarkt zu ziehen. Aus wirtschaftlichen Entwicklungen Aktienkurse ableiten zu können, unterliegt der Kontrollillusion. Denn auf Jahressicht zog der Deutsche Aktienindex Dax gut fünf Prozent an – den schwierigeren Rahmenbedingungen zum Trotz. Vor allem die Stärke der letzten Wochen – von einem Zwischentief Mitte März ging es gut zehn Prozent aufwärts – ist beachtlich eingedenk der Nachrichtenlage.
Natürlich gibt es keine Garantie, dass all dies so weitergeht. An den letzten Monaten lässt sich jedoch gut ablesen, wie gefährlich das Grundrauschen der täglichen Nachrichten für eine disziplinierte, langfristige Anlage ist. Quasi täglich flimmert eine neue Nachricht über die TV- oder Smartphonebildschirme, die nahelegt, vielleicht doch besser Kasse zu machen mit den Anlagen, die man womöglich für die lange Hand gekauft hat. Und die natürlich auch alle Menschen ohne Aktien im Depot darin bestärkt, dass sich doch Aktienmärkte und Realwirtschaft völlig voneinander entkoppelt hätten.
Hinzu kommt, dass wir intuitiv Scheinkorrelationen aufsitzen, für die es aber langfristig keine verlässlichen Belege gibt. Das gilt etwa für den Ölpreis: Die Intuition sagt uns, dass ein steigender Ölpreis problematisch ist. Schließlich kletterte er in der Vergangenheit in Kriegen und Krisen, er schleicht sich über Energie und Benzin in unsere Lebenshaltungskosten und drückt auf die Margen vieler Unternehmen. Tatsächlich aber gibt es keine zwingende Korrelation zwischen Ölpreisveränderungen und Aktienkursen. In manchen Marktphasen ist sie stark, in manchen sogar negativ, und das über Jahre. Es gibt schließlich auch viele denkbare Gründe für Ölpreisveränderungen – und die höheren Öleinnahmen werden von vielen Staaten unter Umständen „recycled“ und wieder den Aktien- und Anleihenmärkten zugeführt.
Das gleiche gilt für die Zinsen: Auch hier liegt nahe, dass steigende Zinsen Gift für Aktienkurse sein müssten. Denn höher verzinste Anleihen sind lukrativere Alternativen zu Aktien. Aber auch hier gilt: In der Vergangenheit gab es Phasen, in denen steigende Zinsen den Aktienkursen zugesetzt haben, etwa in den Nuller Jahren. Es gab aber auch umgekehrt ganze Jahrzehnte, in denen es überhaupt keinen Zusammenhang zwischen Zinsveränderungen und Aktienkursentwicklungen gab ( siehe Interview hier) und sogar Zeiten, in denen stark steigende Zinsen als guten Grund für steigende Aktienkurse interpretiert wurden.
Die Jagd nach plausibel klingenden Korrelationen zwischen Aktien auf der einen und Zinsen, Öl, Kriegen, dem Ausgang der Fußballweltmeisterschaft, Gräserpollenflug oder dem jeweiligen Monat eines Jahres – die mag eine schöne Unterhaltung für zwischendurch sein. Den ein oder anderen diszipliniert sie vielleicht auch oder bestärkt sie im jeweiligen Handeln. Kluge Langfristanleger tun gut daran, das Grundrauschen schlicht zu ignorieren.