Hinter den Briten liegt wieder einmal ein politisch turbulentes Jahr. Der neue Premierminister Rishi Sunak steht jetzt vor der schwierigen Aufgabe, Großbritannien durch eine Wirtschafts- und Vertrauenskrise zu führen. Das wird wahrlich nicht einfach, auch nicht für den ehemaligen Hedgefonds Manager und Ex-Finanzminister. Zugleich ist es eine Chance, das Momentum zu nutzen, um den britischen Markt auf Spur zu bringen. Einige Marktexperten sind der Meinung, dass momentan genau dafür die besten Voraussetzungen herrschen.
So prognostizieren James Lowen und Clive Beagles, Portfoliomanager bei der JO Hambro Management Capital Group (JOHAM), dass der britische Aktienmarkt kurz vor einem Wendepunkt steht: „Wir gehen davon aus, dass sich die Probleme mit den Lebenshaltungskosten im Jahr 2023 abschwächen werden, wenn die Inflation zurückgeht“, sagt Lowen. Er geht davon aus, dass ein Wendepunkt bei den Zinsschritten der Zentralbanken näher rückt, diese künftig deutlich weniger stark ausfallen dürften. „Damit könnten sich Aktien, die der Realwirtschaft ausgesetzt sind, dramatisch erholen“, sagt der Experte.
Zuletzt hatte die Bank of England (BoE) eine längere Rezession vorausgesagt und als Ausblick gegeben, dass die Inflation unter ihrem Zwei-Prozent-Ziel liegen würde, wenn die Leitzinsen den Markterwartungen folgen. Ähnlich zurückhaltend wie die BoE äußert sich auch Steven Bell, Chefvolkswirt bei Columbia Threadneedle Investments. Er rechnet mit einem weiterhin schwachen Pfund und einem anhaltend belasteten Immobilienmarkt, der die Wirtschaftstätigkeit insgesamt beeinträchtigen würde. „Dies wird den Anstieg der Leitzinsen begrenzen“, sagt Bell. „Trotz der Aussicht auf einen strengen Haushalt der neuen Regierung wird das Haushaltsdefizit hoch bleiben.“ Risikopapiere wie Aktien dürften eine scherze Zeit vor sich haben und das Jahr 2023 schwach beginnen. Im Laufe des neuen Jahres rechnet Bell allerdings mit dem Beginn eines Bullenmarktest. „Die britische Wirtschaft wird sich erholen, die Inflation wird zurückgehen und wir werden zum Wachstum zurückkehren.“
Shell ragt heraus
Für eine Erholung sprechen laut JOHAM-Experte Lowen außerdem positive Entwicklungen, die in den Medien seiner Meinung nach bislang untergegangen sind. „Die Gaspreise in Großbritannien sind von ihren Höchstständen im August zurückgegangen, im Vereinigten Königreich herrscht weiterhin fast Vollbeschäftigung und die Gewinne befinden sich weiterhin in der Nähe von Rekordhöhen“, sagt Lowen. Anleger, die von einer langfristigen Erholung am britischen Aktienmarkt profitieren wollen, sollten Lowens Analyse nach auf Value-Titel setzen. Zwar hätten sich diese im Vergleich zu Wachstumstiteln bislang kaum erholt. Dies würde sich aber im kommenden Jahr ändern.
Gut im Geschäft ist beispielsweise Shell – nicht zuletzt aufgrund des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der anhaltenden Energiekrise. Der Ölkonzern erwirtschaftete in den Monaten Juli bis September einen um Sondereffekte bereinigten Gewinn in Höhe von 9,4 Mrd. Dollar. Das war das zweitbeste Quartalsergebnis der Konzern-Geschichte. Unter dem Strich verdiente Shell 6,7 Mrd. Dollar nach bereits 18 Mrd. Dollar im zweiten Quartal. Analysten empfehlen die Titel mehrheitlich zum Kauf.
Berenberg-Analyst Henry Tarr hat seine Schätzung für den Gewinn je Aktie erhöht, um 5,5 Prozent für das laufende Jahr und um 7 Prozent für 2023. Die Raffinerie-Margen und Ergebnisse im Gas-Geschäft werden höher ausfallen als allgemein erwartet, meint er. Das Papier kommt aktuell auf ein niedriges Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 9. Und das ist nur einer von vielen günstigen Titeln, die der britische Aktienmarkt derzeit zu bieten hat. Wer jetzt einsteigt, darf auf hohe Renditen hoffen, braucht aber einen langen Atem.