Capital: Frau Dr. Bortenlänger, zehn Jahre der Finanzkrise und trotz annähernd Vollbeschäftigung, Nullzinsen und Konjunkturboom liegt die Zahl der Aktionäre in Deutschland niedriger als noch vor zehn Jahren. Ist der Zug für den laufenden Börsenzyklus schon wieder abgefahren in Sachen stärkere Verbreitung von Aktien in Deutschland?
CHRISTINE BORTENLÄNGER: Die Frage ist berechtigt. Zwar ist die Zahl der Aktionäre zuletzt um rund eine Million gestiegen. Aber relativ betrachtet halten nur 16 Prozent der Deutschen direkt oder indirekt über Fonds Aktien, absolut betrachtet sogar weniger als vor der Finanzkrise. Wir haben sie uns deshalb auch in einer Studie gestellt mit 2000 Befragten.
Mit welchen Ergebnissen?
Die einfachste Erkenntnis: Wer schon einmal konkreten Kontakt und persönliche Erfahrungen mit der Aktienanlage hatte, verfügt über ein realistisches Bild über die Chancen und Risiken. Bei jenen ohne Erfahrung herrscht oft große Skepsis und es gibt tief verwurzelte Missverständnisse.
Wie sehen die konkret aus?
Zwei Drittel der Nicht-Aktienbesitzer halten Aktien trotz der langfristig überlegenen Wertentwicklung schlicht für riskant. Und nicht einmal jeder fünfte von ihnen weiß, dass eine Aktienanlage auch für kleine Anlagebeträge sinnvoll ist. Das geht soweit, dass die Hälfte der Befragten mit einem Monatsnettoeinkommen von über 3000 Euro angab, sie hätten derzeit generell kein Geld für Aktien oder Aktienfonds. Wir glauben nicht, dass das mit der objektiven Sparfähigkeit der Menschen in Einklang steht. Die Spielräume wären da gemessen an den Vermögensstatistiken, die Sparquoten sind ja auch hoch in Deutschland.
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Sie diagnostizieren Missverständnisse, Skepsis, fehlendes Wissen – könnte es womöglich sein, dass es die Menschen auch nicht gerade näher an die Aktie heranführt, indem man ihnen laufend erklärt, sie sparten falsch? Viele Menschen entscheiden sich ja bewusst für sichere und liquide Geldanlagen.
Dieser Kritik stellen wir uns, ja. Eine Erkenntnis unserer Studie ist allerdings auch: Neun von zehn Personen, die aktuell keine Aktien besitzen, haben in den letzten Jahren die Aktienanlage nicht aktiv in Betracht gezogen. Nur mit Überzeugungsarbeit oder dem Aufbau von Erfahrungswissen werden wir diesen tief skeptischen Status quo nicht ändern können.
Was dann?
Die positive Wirkung der Aktienanlage sollte natürlich allen Akteuren am Herzen liegen. Aber die Weichen werden in der Politik in Berlin gestellt. Aktien müssen bei der Reform des staatlichen Altersvorsorgesystems stärker berücksichtigt werden. Wir sind sehr gespannt auf die Ergebnisse der Berliner Rentenkommission in diesem Jahr.
Was wäre Ihre Wunschvorstellung?
Warum sollte es nicht auf eine Lösung wie in Schweden hinauslaufen, wo ein Teil auch der ersten Säule der Altersvorsorge – also des staatlichen Rentensystems – am Aktienmarkt angelegt wird? Die Vorteile wären doch unbestritten, sowohl in Sachen Rendite als auch den möglichen Aktionärsstrukturen. Es wäre auch eine gute Antwort auf die Herausforderung, wie wir mögliche Jobverluste durch Digitalisierung und Automatisierung auffangen könnten.
Halten Sie es wirklich für realistisch und vermittelbar, dass sich die Politik dazu durchringen kann, Teile der staatlichen Altersvorsorge in die Finanzmärkte umzulenken?
Selbstverständlich. Die Risiken und typischen Schwankungen streitet ja niemand ab. Aber mit einer Haltedauer von 20 und mehr Jahren – in der Regel also nur einem kleinen Teil des typischen Erwerbslebens – gab es mit Aktien verlässlich hohe Renditen. Die Unsicherheit über die kurzfristige Wertentwicklung verursacht Vorurteile, die die Aktienanlage komplex wirken lassen. Aber einmal umgekehrt gefragt: Wer versteht denn das aktuelle System der umlagenfinanzierten Rente wirklich und wie es in 20 Jahren finanziert werden kann? Wer versteht wirklich, wie groß sein Rentenanspruch ungefähr sein wird in der Summe aller Einkunftsströme nach Steuern und Sozialabgaben? Man muss kein Finanzprofi sein, um in Aktien zu investieren, das geht mittels Depoteröffnung und Sparplänen sehr simpel. Ob das für die gesetzliche Rente gilt, wage ich indes zu bezweifeln.