Wenn es einen Feind des guten Anlegers gibt, dann ist es der sogenannte „Attention Bias“. Ständig wird unsere Aufmerksamkeit auf Dinge gelenkt, die langfristig von geringer Bedeutung für unseren Anlageerfolg sind. Quartalszahlen hier, Megatrends da, und über allem wabert der Klangteppich mit dem Krisengemurmel über China, Italien, Schulden, Handelskriegen und so fort.
Kaum eine Episode illustriert die Herausforderung fehlgeleiteter Aufmerksamkeit besser als die jüngste Aktienkursentwicklung von Wirecard. Gleich vorweg: Ich kann Ihnen auch nicht sagen, wie ernst die Vorwürfe zu nehmen sind, die die „Financial Times“ erhebt. Die Finanzzeitung berichtete über den Versuch der Umsatzfälschung in einer asiatischen Einheit, um individuelle Ziele zu erreichen.
Ich biete Ihnen aber eine alternative Erklärung zu den kursierenden Theorien, hier hätte womöglich eine Bande von Journalisten und Leerverkäufern in einem miesen Spiel Kasse gemacht oder es handele sich um einen Megaskandal. Meines Erachtens war eine Reihe kritischer Artikel lediglich der Auslöser dafür, dass sich ein zuvor aufgeblasener Kurs mal wieder normalisiert hat. Normalisiert in Kursbereiche, die für das Wachstum des Unternehmens angemessen sind. Kurz: Die Schwerkraft wirkt und hat den Kurs von Wirecard relativ abrupt wieder dahin gezogen, wo er eigentlich auch hingehört – von wo er sich aber durch eine spektakuläre Übertreibung aufgrund der Dax-Aufnahme entfernt hatte.
Herbe Ausschläge der Wirecard-Aktie
Betrachten wir dazu zunächst eine einfache Reihe von Kursen:
- 32 Euro
- 39 Euro
- 41 Euro
- 46 Euro
- 87 Euro
- 103 Euro
Es handelt sich dabei um die Kurse der Wirecard-Aktie jeweils im Februar seit 2014, einschließlich des aktuellen Kurses von 103 Euro. Die Reihe ist an sich unauffällig, der Kurs ist jedes Jahr ein wenig höher. Schaut ein Investor nur einmal pro Jahr auf die Kurse (ein Erfolgsrezept vieler langfristig erfolgreicher Anleger übrigens) – er wäre vermutlich sehr zufrieden und käme nicht auf die Idee, dass etwas nicht stimmen könnte. In den USA kursiert schon länger das Gerücht, eine große Fondsgesellschaft habe einmal analysiert, welche Kundengruppen die höchsten Renditen erzielten. Und habe herausgefunden, dass es die toten Kunden waren, die überhaupt nicht mehr handelten – was man aber unter Verschluss hielt, weil diese Erkenntnis das Beratungsgeschäft eher stören könnte.
Und Leute vom Zocken abhält. Denn ein Nachrichtenjunkie hat mit der Wirecard-Aktie herbe Ausschläge erlebt: 33 Prozent runter und dann wieder 50 Prozent rauf etwa im Jahr 2016. Oder 100 Prozent rauf 2018, und wieder fast 50 Prozent runter seit Herbst 2018. Zugegeben, das erfordert Nerven, unterscheidet sich aber bestenfalls im Tempo, nicht aber im Ausmaß der Kursveränderungen von ganz normalen Ausschlägen, die wachstumsstarke Aktien üblicherweise aufweisen. Die Apple-Aktie etwa – zeitweise das wertvollste Unternehmen der Welt – hat in den letzten gut zehn Jahren viermal Rückschläge in der Größenordnung von 35 bis 56 Prozent hinnehmen müssen, wenngleich natürlich über längere Zeiträume hinweg und nicht innerhalb von wenigen Tagen.
Natürlich sollt man den Verlust von 25 Prozent binnen Minuten bei einem Dax-Wert nicht kleinquatschen. Anleger werden mit einer Menge plausibel klingenden Theorien überflutet in solchen Fällen. Aber im Kern geht es immer um das gleiche: Investoren haben schlicht Zweifel, dass die Bewertung gerechtfertigt ist, sprich das Unternehmen über künftige Cashflows seinen Börsenwert rechtfertigen kann.
Dax-Aufstieg weckte Kursfantasie
Bewertung ist bei Wirecard ein wichtiges Stichwort: Seit 2013 hat sich die Aktie zwar mehr als vervierfacht. Betrachtet man jedoch zwei einfache fundamentale Kennziffern im Verlauf seit 2013 – das tatsächliche Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) und das von Analysten für das Folgejahr erwartete Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), so zeigt sich, dass sich die Bewertung ein halbes Jahrzehnt lang innerhalb einer gewissen Bandbreite bewegte: Beim erwarteten Kurs-Gewinn-Verhältnis waren dies ein KGV von 20 auf der Unterseite und von 30 auf der Oberseite. Beim tatsächlichen KGV war die Bandbreite etwas größer, sie lag die meiste Zeit zwischen rund 25 und etwa 45.
Vor einem Jahr hingegen hob der Kurs dramatisch ab – und mit ihm die Bewertung. Nun muss man aufpassen mit Kausalitäten, aber der Verdacht ist naheliegend, dass hier die Erwartung der Aufnahme in den Dax die Fantasie vieler Spekulanten und Investoren angefacht hat. Und es dürfte auch zu Vorzieheffekte passiver Investoren gekommen sein, deren Handelspartner sich in Stellung brachten für die zu erwartende Nachfrage. Die Folge: Zum Zeitpunkt der Dax-Aufnahme lag das tatsächliche Kurs-Gewinn-Verhältnis bei 80 (sic!) – statt wie zuvor jahrelang im Band zwischen 25 und 45 – und das erwartete Kurs-Gewinn-Verhältnis bei 50 (statt wie jahrelang zuvor zwischen 20 und 30). Und das, obwohl die Umsatz- und Gewinndynamik bei den gleichen Werten wie zuvor lag, nämlich bei rund 35 bis 40 Prozent pro Jahr. Es ist nämlich nicht so, dass Wirecard im Laufe des Jahres 2018 einen Turboknopf für die Gewinne gefunden hätte.
Vergessen wir nun alles, was über Wirecard geschrieben wurde und betrachten die aktuelle Bewertung bei 103 Euro, mithin also einem tatsächlichen Kurs-Gewinn-Verhältnis von rund 35 und einem erwarteten Kurs-Gewinn-Verhältnis von rund 25. Das ist recht genau die Mitte der jahrelang üblichen Spannen. Folgt man der Theorie der Normalisierung, haben – erstens – womöglich einige Investoren nicht etwa in Panik vor einem Bilanzskandal verkauft, sondern den Anlass genutzt, sich von Papieren zu trennen, deren Bewertung hoch war, die man aber zuvor nicht ohne Not aus der Hand geben wollte. Und – zweitens – ist die Aktie auch nicht zwingend ein Schnäppchen, weil sie einmal bei 190 Euro stand und nun bei 103 Euro, sondern die 190 Euro waren schlicht eine Übertreibung, zumindest nach üblichen fundamentalen Maßstäben.
Viele Verlierer und ein böser Verdacht
Natürlich geht es hier trotzdem um mehr als nur Übertreibungen. Die ganze Causa Wirecard kennt fast nur Verlierer: Aktionäre haben rund 7 Mrd. Euro verloren. Der Verdacht ist – auch aufgrund der teuren Übernahmen in der Vergangenheit – nicht einfach vom Tisch zu fegen, dass mit der Erlösgenerierung im Ausland etwas nicht stimmt. Wirecard selbst erweckt nicht den Eindruck, in Sachen Investor Relations auf Dax-Niveau angekommen zu sein. Für die wenigen aktienaffinen Anleger drängt sich einmal mehr der Eindruck auf, bei der Börse handele es sich um eine Zockerbude, wo mit gezinkten Karten gespielt wird. Hinzu kommt, dass gemessen am Ausmaß früherer Attacken auch nicht allzu viele Leerverkäufer am Kursverlust verdient haben. Gerade einmal drei Prozent aller Aktien waren leer verkauft, als der Kurs zur Tauchfahrt ansetzte Ende Januar.
Auch viele Anleger, die gar keine Wirecard-Aktien halten, sind womöglich Verlierer. Wirecard zieht die ganze Aufmerksamkeit auf sich, weil die Kursverluste dort binnen weniger Tage eingefahren wurden. Die traurige Realität im Dax ist, dass sich rund die Hälfte der Konzerne in ernsthaften Schwierigkeiten befindet und Investoren Zweifel an künftigen Erträgen haben. Nimmt man etwa die 2017/2018 erreichten Höchststände als Maßstab, haben Ikonen der deutschen Unternehmenslandschaft zwischen 33 und 60 Prozent verloren: BASF, Bayer, Continental, die Deutsche Bank, Henkel oder Fresenius etwa. Und bei ihnen wurde nicht „nach oben übertrieben“.
Zähneklappen ist jedenfalls schon bei den künftigen Dax-Aufstiegskandidaten angesagt. Was einst rituell ex ante als „Ritterschlag“ apostrophiert wurde, mündete in der Praxis in einem Kursmassaker. Die Charts der letzten Aufsteiger Pro Sieben Sat 1, Covestro und Wirecard lassen grüßen.