Die Welt ist 2020 nicht nur kriegsbedingt ein Ort des Unfriedens gewesen, auch die sozialen Konflikte haben spürbar zugenommen. Nach einem Rückblick des Global Peace Index sind Krawalle, Streiks und Anti-Regierungs-Proteste seit 2011 um 250 Prozent gestiegen. Die verschärfte Situation in 2020 führt der GPI auf die Corona-Pandemie zurück: „Obwohl ein Rückgang der Konflikte und des Terrorismus verzeichnet wurde, haben politische Instabilität und gewalttätige Demonstrationen zugenommen.“
Von Südafrika bis Kuba – in 25 Ländern hat sich die Lage aufgrund von Krawallen verschlechtert. Von Januar 2020 bis April 2021 wurden mehr als 5000 gewalttätige Ereignisse im Zusammenhang mit der Pandemie registriert. Auch der Internationale Währungsfonds (IWF) befürchtet, dass die Pandemie fortgesetzte soziale Unruhen schürt, nachdem verbreitete Lockdowns die Armut und Ungleichheit besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern verschärft haben. Gerade in einem bereits schwachen wirtschaftlichen Umfeld verursache der soziale Unfrieden überproportionale Kosten.
Gravierende Folgen für die Wirtschaft
Welchen Preis Volkswirtschaften für soziale Unruhen bezahlen müssen, haben nun Forscher des IWF in einem Arbeitspapier kalkuliert . Sie zeichneten einen weltweiten Index sozialer Unruhen nach und kamen u.a. zu dem Ergebnis, dass eine Kombination aus sozio-ökonomischen und politischen Konfliktursachen die gravierendsten Verluste für die Wirtschaft verursache.
In jedem Fall aber bremsten Krawalle den Wirtschafsmotor je nach Tiefe und Dauer einer Krise nicht nur kurzfristig durch Druck auf Konsum, Industrie und Services, auch langfristig fordern Vertrauensverlust und Verunsicherung von Verbrauchern und Unternehmen ihren Tribut. Größere Protestwellen wie in Hongkong, Frankreich oder Chile 2019 kosteten nach den Berechnungen auch 18 Monate später bis zu einen ganzen Prozentpunkt der Wirtschaftsleistung.
Für globale Unternehmen kann das teuer werden. Wie die jährliche Risikoumfrage der Allianz 2021 zeigt, kehren „politische Risiken und Gewalt“ zum ersten Mal seit 2018 auf die Liste der zehn größten befürchteten Gefahren zurück. Laut einer Risikoanalyse vom Forschungshaus Verisk Maplecroft wird es in 75 Ländern bis Ende 2022 deutlich mehr Proteste geben. In mehr als 30 dieser Länder – vor allem in Europa und Amerika – werde es wahrscheinlich zu besonders starken Unruhen kommen.
Ein Überblick über die größten und kostenträchtigsten sozialen Unruhen jüngerer Zeit:
Das sind die Hotspots sozialer Unruhen
Die Proteste treffen Südafrika in einer wirtschaftlich hoch angespannten Lage und der dritten Corona-Welle. Plünderer zerstören Eigentum und stehlen Waren, zünden Gebäude an und blockieren Autobahnen. Angefangen hat das mit politischen Protesten gegen die Strafverfolgung des Ex-Präsidenten Jacob Zuma wegen Korruption. Inzwischen herrscht reine Gesetzlosigkeit im nordöstlichen Gauteng und dem östlichen Kwazulu-Natal, wo der Provinz-Premier den Schaden auf 1 Mrd. Rand (60 Mio. Euro) schätzt. Im Großraum Durban brannten mehrere Warenhäuser. Vom dortigen Hafen (Bild) führt die Autobahn N3 – eine wichtige Versorgungsader – ins Industriezentrum rund um Johannesburg. Präsident Cyril Ramaphosa fürchtet Lieferengpässe und Lebensmittelknappheit.
Eine Pro-Regierungs-Kundgebung in Havanna. Nach Protesten in Kuba hat die Regierung Zugeständnisse an die Demonstranten gemacht. Reisende dürfen Lebensmittel, Medikamente und Hygieneartikel künftig zollfrei einführen. Vergangenes Wochenende kam es in der Stadt San Antonio de los Banos zu einer seltenen Massenkundgebung gegen die „Diktatur“ und die schlimmste Wirtschaftskrise seit 30 Jahren. Strom und Lebensmittel sind knapp, die Touristen bleiben aus und damit die nötigen Devisen für Importe. Auch Hilfen aus Venezuela versiegen. 2020 forderte die Generalversammlung der UN ein Ende der Handels-, Wirtschafts- und Finanzblockaden der USA.
Seit dem Herbst 2019 protestieren viele Chilenen trotz harter Polizeigewalt für mehr soziale Gerechtigkeit. Die Reihe von Demonstrationen in der chilenischen Hauptstadt Santiago de Chile und anderen Städten des Landes gegen die soziale Ungleichheit reißt nicht ab. Ausgelöst wurden die Proteste durch Fahrpreiserhöhungen 30 Jahre nach Ende der Diktatur. Getragen von einer breiten Bevölkerung weiteten sie sich zu einer Bewegung für eine Verfassungsreform und für tiefgreifende Reformen des Wirtschafts- und Sozialsystems aus.
Ihren Höhepunkt fanden die Massendemonstrationen in Venezuela 2019, als Menschen wie hier im Bild zum Luftstützpunkt La Carlota strömten, damit die Streitkräfte die Grenzen für humanitäre Hilfe öffneten. Die Gegner der sozialistischen Regierung von Präsident Maduro scharten sich um Oppositionsführer Juan Guaidó, dessen aufgerufene Rebellion aber erstickt wurde. Das Regime in Caracas geht trotz Verhandlungen über eine politische Lösung weiter mit aller Härte gegen die Opposition vor. Sicherheitskräfte bedrängen die Familie und das Umfeld des legitimen Übergangspräsidenten Guaidó.
Tränengas, Wasserwerfer und Brandsätze. Die Proteste 2019 gelten als die umfangreichsten seit der 1989 blutig niedergeschlagenen Demokratiebewegung in Peking und die schwerste politische Krise der Stadt seit der Übergabe an die Volksrepublik China 1997. Zeitweise gingen in der chinesischen Sonderverwaltungszone über eine Million Menschen auf die Straße, um gegen die Aushöhlung des liberalen Rechtsystem durch die autoritäre Volksrepublik zu protestieren. Verhaftungswellen und ein neues Sicherheitsgesetz beendeten die offene Rebellion. Sie hat die Wirtschaft an den Rand der Rezession gebracht und 1,2 Prozent Verlust beschert.
Die Bewegung war aus Wut über die Steuerpolitik von Staatspräsident Emmanuel Macron entstanden und uferte in teils gewalttätige Auseinandersetzungen aus, wie hier auf der Pariser Champs Elysée. Die Proteste der Gelbwesten 2019 haben der französischen Wirtschaft laut Minister Bruno Le Maire kurzfristig 200 Mio. Euro gekostet. Die Folgeeffekte auf den Konsum kosteten pro Jahresquartal bis zu 0,2 Prozentpunkte an Wachstum. Tatsächlich bescherte der Protest Frankreich ein unverhofftes Konjunkturprogramm: ein Ausgabenpaket von zehn Mrd. Euro, das Macron auflegte, um den Aufstand zu befrieden, erwies sich als Stütze für Europas zweitgrößte Volkswirtschaft.
Der Libanon ist ein Paradebeispiel für die IWF-Definition eines Landes, in dem sich wegen schwacher Regierung und mangelnder politischer Gestaltungsfähigkeit der wirtschaftliche Schaden noch potenziert. Massenproteste 2019 entsprangen der Wut über miserable kommunale Versorgung und mündeten in offenem Aufruhr gegen neue Steuergesetze, das politische System und die Wirtschaftslage. Im August 2020 kam es zu einer schweren Explosion im Hafen von Beirut. Seit einem der strengsten Lockdowns der Welt im Februar wehren die Menschen sich wieder mit Demonstrationen, Sit-ins und gegen eine Inflation von 120 Prozent und steigende Benzinpreise.