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Debatte 7 Mythen über den Arbeitsmarkt

Die Zahlen vom Arbeitsmarkt sind phänomenal - trotzdem klagen viele. Capital erklärt, was davon zu halten ist.

Am deutschen Arbeitsmarkt scheiden sich die Geister. Für die einen ist die Lage trist. Ja, es gebe zwar neue Arbeitsplätze, heißt es dann, viele der neuen Jobs seien aber prekär. Menschen müssten sich auf befristete Verträge, Teilzeitarbeit und Minijobs einlassen, sonst hätten sie keine Chance auf dem Arbeitsmarkt und litten womöglich noch Hunger und Not. Wer Martin Schulz, dem SPD-Kanzlerkandidaten, länger zuhört (oder Arbeitsministerin Andrea Nahles von der SPD) gewinnt diesen Eindruck: Seit den Agenda-Reformen des SPD-Kanzlers Gerhard Schröder vor bald 15 Jahren weht ein eisiger Wind durch Deutschland.

Dagegen stehen die Zahlen, die jeden Monat aus Nürnberg verbreitet werden: Rekordniveau bei den Beschäftigten (43,8 Millionen Menschen); 667.000 neue zusätzliche Jobs noch in diesem Jahr. Die Zahl der Arbeitslosen steuert Richtung 2,5 Millionen und hat sich seit 2005 fast halbiert. Fünf Millionen Menschen haben seither einen neuen sozialversicherungspflichtigen Job gefunden. Das statistische Risiko, seinen Job zu verlieren, sinkt seit Jahren.

Irgendwie passen Zahlen und Stimmung nicht zusammen. Oder vielleicht doch? Capital erklärt, was an den Klagen über das deutsche Jobwunder stimmt und was nicht.

Mythos 01

Die Hartz-IV-Reformen haben vor allem prekäre Jobs geschaffen

Von wegen. Ein Blick in den Mikrozensus, eine repräsentative Befragung, fördert es zutage: Normal ist immer noch normal. Die allermeisten erwerbstätigen Deutschen, nämlich 21,4 Millionen, hatten im Jahr 2015 ein sogenanntes Normalarbeitsverhältnis. Das sind 59 Prozent aller Kernerwerbstätigen, ohne Auszubildende. Normal ist das Arbeitsverhältnis, so die offizielle Definition, wenn es unbefristet, sozialversicherungspflichtig, abhängig beschäftigt und Vollzeit ist. Wobei bei Vollzeit auch jene Teilzeitbeschäftigten mitzählen, die mehr als 20 Wochenstunden arbeiten. So kommt die Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg sogar auf 24,8 Millionen Normalos. Egal wie definiert, der Anteil der Normalarbeitsverhältnisse wächst seit 2010.

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Nun zur Verdachtsgruppe des Prekariats. Dazu zählen all jene, die befristet arbeiten oder weniger als 20 Stunden, als Minijobber oder Zeitarbeiter ihr Geld verdienen. Die Statistiker reden von atypisch Beschäftigten. Im Jahr 2015, der letzten verfügbaren Statistik, fanden sich rund 7,5 Millionen Menschen in dieser Gruppe wieder. Fünf Jahre zuvor waren es 7,9 Millionen gewesen.

Ob ihre Situation aber wirklich prekär ist, ist nicht so einfach zu sagen. Denn unter „prekär“ versteht man meist Lebensumstände, in denen der Arbeitslohn nicht oder kaum für Wohnen und Essen reicht. Dies gilt auf den ersten Blick für sogenannte Hartz-IV-Aufstocker, die zusätzlich zum Arbeitslohn staatliche Unterstützung erhalten. Im vergangenen Jahr waren 391.401 Teilzeitbeschäftigte auf Hilfe angewiesen, zudem 529.212 Minijobber. Und auch 200.000 Menschen mit einem „Normalarbeitsverhältnis“. Insgesamt gab es 1,2 Millionen Hartz-IV-Aufstocker. 2010 waren es etwas mehr.

Mythos 02

Neueinstellungen sind fast immer befristet

Stimmt, jedenfalls für den kleinen, elitären Kreis der Dax-Vorstände. Doch die sind natürlich nicht gemeint in dieser Debatte um befristete Jobs. Fakt ist, dass bei Neueinstellungen 42 Prozent der Verträge 2015 befristet waren. Das klingt viel, aber 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, waren es mehr, fast jeder zweite Neueinsteiger (47 Prozent) musste sich mit einem befristeten Vertrag begnügen.

Viel aussagekräftiger aber ist eine andere Zahl: 40 Prozent der befristeten Arbeitnehmer wurden 2015 unbefristet übernommen, 2009 waren es nur 30 Prozent. Der größte Befrister in diesem Land sind übrigens der öffentliche Dienst (60 Prozent der Neueinstellungen) und ganz besonders die Wissenschaft (87 Prozent), entlarvt das IAB-Betriebspanel. In der Privatwirtschaft waren es 40 Prozent. Auch die Übernahmequote befristet Beschäftigter fiel im öffentlichen Dienst (ohne Wissenschaft) im ersten Halbjahr 2014 mit 32 Prozent um zehn Prozentpunkte niedriger aus als im privaten Sektor.

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Apropos: Unter den Bundesministerien ist das SPD-geführte Familienministerium Spitze, die Befristungsquote stieg hier zwischen 2004 und 2013 von 1,2 auf 18,6 Prozent.

Insgesamt sind unbefristete Arbeitsverträge die Regel, nur jeder zwölfte enthält eine Befristung. Seit 2005 bewegt sich dieser Anteil zwischen acht und neun Prozent, gemessen an allen abhängig Beschäftigten über 25 Jahre. Traditionell höher ist er bei den 25- bis 34-Jährigen. Personen ohne Berufsausbildung und Universitätsabsolventen sind gleichermaßen häufiger befristet beschäftigt als Absolventen einer dualen Berufsausbildung oder mit Fachhochschulabschluss.

Auch ein anderer Befund widerspricht dem Gefühl, dass Arbeitnehmer immer kürzer beschäftigt werden: Die Anzahl derer, die schon seit mindestens zehn Jahren im selben Betrieb arbeiten, ist seit dem Jahr 2000 weitgehend unverändert: 44 Prozent.

Mythos 03

Viele arbeiten notgedrungen Teilzeit

Im Jahr 2015 hatten rund 11,2 Millionen Menschen laut Arbeitskräfteerhebung einen Job in Teilzeit. Das ist etwa ein Viertel aller Beschäftigten, vier Prozent weniger als im Jahr 2003. Allerdings würden nur 14 Prozent der Teilzeiter gern mehr arbeiten. Der Anteil dieser sogenannten Unterbeschäftigten geht seit 2011 zurück, damals lag er noch bei 19 Prozent. Die deutlich seltener in Teilzeit beschäftigten Männer äußerten häufiger den Wunsch nach Mehrarbeit (19 Prozent) als Frauen (13 Prozent). Fakt ist aber auch, dass diese Beschäftigten im Schnitt mit 12,50 Euro brutto pro Stunde deutlich weniger verdienen als ein sogenannter Normalarbeitnehmer mit knapp 20 Euro.

Mythos 04

Jeder Fünfte arbeitet im Niedriglohnsektor

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Zum Niedriglohnsektor gehört, wer weniger als zwei Drittel des mittleren Bruttolohns verdient. So definiert es die OECD. Allerdings lässt sie offen, wessen Bruttolohn zählt. Mit Teilzeitbeschäftigten oder ohne, mit oder ohne Azubis – je nach Abgrenzung fällt der Wert höher oder niedriger aus. Die BA nimmt die Bruttolöhne aller Sozialversicherungsbeschäftigten in Vollzeit in der Kerngruppe und kommt so 2015 auf 2056 Euro im Monat, umgerechnet rund 12 Euro die Stunde. Das ist die Schwelle. Wer weniger erhält, ist Niedrigverdiener. Nach dieser Definition arbeitet ein Fünftel der Vollzeitbeschäftigten im Niedriglohnsektor.

Das würden sie allerdings auch, wenn die Regierung per Dekret alle Löhne verdoppelte. Die Schwelle erhöhte sich auf 24 Euro, die Quote aber bliebe gleich. Die eigentliche Krux an dieser Zahl ist aber etwas anderes: Sie erfasst nur einen Ausschnitt – Minijobber, Teilzeitbeschäftigte und Selbstständige sind rausgerechnet. Gerade sie aber dürften zum großen Teil Geringverdiener sein. „Jeder Fünfte“ ist also eher einer Unter- als eine Übertreibung.

Mythos 05

Einmal Geringverdiener, immer Geringverdiener

Vom Tellerwäscher zum Millionär, das ist Hollywood. Hierzulande fällt der Aufstieg aus der untersten Schicht in die nächsthöhere schwer. 27 Prozent der Arbeitnehmer aus dem Niedriglohnsektor gelang das 2014 binnen eines Jahres, so das Ergebnis einer Studie des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft (IW). Eine leicht steigende Aufwärtsmobilität konstatiert das IW seit 2008. Seither nehme der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor nicht mehr zu. Die Abstiegsgefahr sei mit 5,5 Prozent seit Jahren recht stabil.

Mythos 06

Unternehmensgewinne wachsen schneller als die Löhne der Beschäftigten

Wem steht was zu, wer bekommt wie viel ab vom wirtschaftlichen Aufschwung? Das ist der Kern der Gerechtigkeitsdebatte. Der empirische Befund ist eindeutig.

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Seit 2003 steigen die Unternehmens- und Vermögenseinkommen deutlich schneller als die Arbeitnehmerentgelte. Daran hat weder die Finanzkrise noch die Einführung des Mindestlohns etwas geändert. Historisch gesehen war die Marktwirtschaft schon mal sozialer, Mitte der 70er- bis Mitte der 80er-Jahre stiegen die Löhne schneller als die Gewinne der Unternehmer. Auch zwischen 1999 und 2003, nach dem Wiedervereinigungsboom, war das so.

Die Reallöhne, die um die Inflation bereinigten Verdienste, stiegen 2007 bis 2016 um insgesamt 9,7 Prozent. Die höchsten Zuwächse erzielten mit Abstand leitende Angestellte sowie herausgehobene Fachkräfte. Der interessanteste Befund zur Lohn- und Gehaltsentwicklung in Deutschland kommt übrigens von der in Umverteilungsfragen unverdächtigen Bundesbank: Sie mahnt seit Jahren bei Gewerkschaften und Arbeitgebern höhere Lohnzuwächse an.

Mythos 07

Die Arbeitslosenzahlen sind geschönt, die wahren Zahlen sind viel höher

Wahr ist, es gibt nicht nur eine Arbeitslosenzahl, sondern vier verschiedene. Alle vier werden von der BA ausgewiesen, in der Öffentlichkeit ist aber meist nur die Rede von den registrierten Arbeitslosen. Sie hat sich als offizielle Zahl eingebürgert. Bei 2,6 Millionen lag sie im März 2017. Rechnet man die Arbeitslosen in Eingliederungsmaßnahmen hinzu (Arbeitslose im weiteren Sinne), dann die ALG-II-Empfänger über 58 Jahre, Teilnehmer an Arbeitsmarktmaßnahmen plus krankgemeldete Arbeitslose (das alles sind Unterbeschäftigte im engeren Sinn) und am Ende die Menschen, die einen Gründungszuschuss erhalten, dann kommt man auf die Zahl aller Arbeitslosen und Unterbeschäftigten. Sie liegt immerhin eine Million höher bei 3,6 Millionen.

Fazit

Mitnichten ist alles gut auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Löhne und Gehälter haben lange nicht mitgehalten mit der guten wirtschaftlichen Entwicklung der vergangenen Jahre. Es gibt, trotz vieler guter Zahlen, eine Gruppe von Abgehängten auf dem Arbeitsmarkt, deren Aufstiegschancen klein sind. Soziale Mobilität und Chancengerechtigkeit, Kennzeichen einer sozialen Marktwirtschaft, könnten besser sein. Warum aber die SPD ihre eigenen Reformen dämonisiert, bleibt vorerst ihr Geheimnis. Die Zahlen geben das kaum her.

Der Beitrag ist zuerst in Capital 06/2017 erschienen. Hier geht es zum Abo-Shop, wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes, GooglePlay und Amazon

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