
Rainer Hillebrand ist stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Otto Group und verantwortet den Bereich Konzernstrategie, E-Commerce und Business Intelligence
Capital: Herr Hillebrand, der Versandhandel war früher als andere Branchen von der Konkurrenz durch digitale Wettbewerber betroffen. Wie muss ein Unternehmen darauf reagieren?
Hillebrand: Das Wichtigste ist zu verstehen, dass es eine digitale Transformation gibt und dass wir dieser fundamentalen Veränderung gegenüber offen sein müssen. Im Handel haben ja viele geglaubt, die Digitalisierung gehe an ihnen vorbei. Wir haben schon Mitte der 90-er-Jahre und damit sehr früh beschlossen, uns dieser zu stellen. Das war eine Zeit, in der wir mit Führungskräften erst einmal E-Commerce-Führerscheine gemacht haben nach dem Motto: Jetzt gehen wir mal einen Tag zusammen ins Internet und lernen, was das für uns bedeutet. Das war der Beginn der internen Transformation.
Und sicher gab es auch die obligatorische Erweckungsreise nach Kalifornien?
Heute gibt es ja geradezu eine Reise- und WG-Welle ins Silicon Valley. Wir aber waren damals mit die ersten, die überhaupt vor Ort im Valley waren - mit 18 Vorständen und Direktoren. Da haben wir unter anderem Mark Zuckerberg persönlich kennengelernt. Und danach haben uns die Kollegen gesagt: Uns sind die Augen geöffnet worden und wir verstehen, dass wir anders „ticken“ müssen.
"Monopole überleben nicht"
Mit Amazon kommt einer der wichtigsten Konkurrenten der Otto Group aus den USA. Ist dessen Dominanz im Versandhandel nicht erdrückend?
Die Amazon-Site ist eher eine technologisch getriebene Website und ein riesiger Marktplatz, mit vielen Vorteilen. Die Antwort der Otto Group lautet, dass wir uns ganz anders positionieren. In vielen Themen wie eigenen Handys, Kindle und Streaming-Diensten konkurrieren wir gar nicht mit Amazon. Im Onlinehandel mit Waren sind wir bei Themen wie Mode und Möbel Marktführer und haben den Ehrgeiz, diese Position zu verteidigen. Wir sind im Gegensatz zu Amazon mit vielen Konzernmarken auf über 100 Websites im Onlinemarkt erfolgreich, indem wir die inspirierende und persönliche Komponente betonen: Wer eine Frage hat oder einen Rat braucht, kann bei unseren Konzerngesellschaften in den Callcentern sieben Tage die Woche an 24 Stunden anrufen. Da kümmert sich jemand persönlich. Und das wird sehr geschätzt und intensiv genutzt.
Aber wird nicht am Ende einfach die größte Plattform gewinnen?
Ich glaube langfristig nicht an das Überleben von Monopol- oder Oligopol-Strukturen. Ich glaube, die Menschen lieben die Auswahl. Ob das Thema Emotionalität an Bedeutung verlieren wird, kann keiner beantworten. Inspirierende Angebote und Services werden aber an Bedeutung gewinnen.
Karriere verliert an Bedeutung
Digitalisierung bedeutet ja auch, dass Sie deutlich schneller auf Veränderungen reagieren müssen. Was muss sich dazu im Konzern verändern?
Um im digitalen Business Erfolg zu haben, brauchen Sie LSD. Kein Spaß: L steht für Lead, das S für Speed und das D für Data. Lead meint eine einzigartige Positionierung, damit die Onlinekunden den Shop von sich aus aufsuchen. Für Speed benötige ich die organisatorischen Prozesse, um mit hoherGeschwindigkeit im Internet agieren zu können. Schließlich kommen wir aus einer Katalogwelt. Früher verging allein von der Sortimentsauswahl bis zum Druck des Kataloges bis zu einem dreiviertel Jahr. Wenn wir heute ein Produkt sehen, dass zu unseren Kunden passt, dann muss das morgen auf der Website sein. Und D steht für Data. Hier geht es darum, auf Basis der erhobenen Daten immer rechtzeitig zu erkennen, was die Kunden wollen. Wie kann ich es schaffen, dass der Kunde, sobald er Online ist, die für ihn beste Empfehlung erhält? Dafür benötige ich viele Daten und “Predictive analytics, also die exakte Vorhersage, die ich aus Daten der Vergangenheit ableite. Digitalisierung bedeutet auch immer Versuch und Irrtum. Im Grunde geht das nach dem Prinzip: Wir irren uns empor – aber empor.
Wie bekommen Sie für diese Art von Arbeit die richtigen Leute?
Indem wir eine ganz andere Vorstellung von Karriere entwickeln. Die Leute waren lange Zeit so gepolt: Was kriege ich auf die Schulterklappe und was kriege ich an Gehalt? Das waren die wesentlichen Treiber. Aber bei vielen der heutigen Mitarbeiter hat Work-Lifetime-Balance eine ganz hohe Bedeutung. Die haben keine Lust mehr, am Anfang ihrer Karriere 12 Stunden pro Tag zu arbeiten. Zumindest nicht in einer formalen Struktur. Die Frage nach der nächsten Karrierestufe ist gar nicht mehr der wichtigste Punkt. Die fragen eher: Wie komme ich in das nächste interessante Projekt rein? Den jungen Kolleginnen und Kollegen ist viel wichtiger, mit welchen Menschen sie zusammenarbeiten und was sie von denen lernen können.
Also brauchen sie Zugpferde, um andere anzulocken?
Selbstverständlich, und die können wir an uns binden. Einem 27-Jährigen mit Rastalocken wie Tarek Müller bei Collins eine der wichtigsten Geschäftsführungsaufgaben im Konzern zu geben oder eine Start-up-Instanz wie Florian Heinemann bei Project A hohe Summen Venture Capital anzuvertrauen - das sind die richtigen Signale.

In unserer neuen Ausgabe befassen wir uns ausführlich mit den Folgen der Digitalisierung für die deutsche Wirtschaft. Lange Zeit dachte man, die Digitalisierung würde nur die Musikbranche und Verlage treffen. Doch längst erreichen die Schockwellen die deutschen Kernbranchen.
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