Auch der deutsche Reederverband hatte dazu aufgerufen: Zum Ausklang der Woche berief die Internationale Seeschiffahrtsorganisation IMO eine Dringlichkeitssitzung ein. Das Schicksal von hunderten Seeleuten und Dutzenden Frachtern hängt in der Schwebe. Sie sitzen seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs im Schwarzen Meer fest. Das Gewässer an der wichtigen Transportroute zum Mittelmeer über den Bosporus und das Marmarameer ist zur „Kriegszone“ geworden. Ein Frachter wurde beschossen, die Nato mahnt, das Gewässer zu meiden.
Während die Behörden der Ukraine nach der russischen Invasion alle Häfen – und mit ihnen auch die Schleppdienste – geschlossen haben, forderten betroffene Reederverbände von Russland, dass die gestrandeten und festsitzenden Handelsschiffe mit ihren Crews die Konfliktzone unbeschadet verlassen dürfen.
Mitte der Woche befanden sich laut dem Fachinformationsdienst Lloyd’s List Intelligence noch 34 Schüttgutfrachter oder Bulk-Carrier zum Transport loser Massengüter wie Getreide im Risikogebiet des Schwarzen Meeres und des angrenzenden Asowschen Meeres – elf davon im russischen Novorossijsk. Vor der Invasion waren es fast doppelt so viele.
Das Umschlagsvolumen an diesem Nadelöhr mag den Welthandel wenig beeinflussen, doch die Risiken und Entwicklungen dort stehen stellvertretend für die Schockwellen, die der Überfall Russlands auch im internationalen Schiffsverkehr ausgelöst hat. In den Häfen am Schwarzen Meer wird nicht nur ein Drittel der weltweiten Getreidefracht verladen, sondern auch Erdöl, Kohle und Dünger. Nicht zu vergessen die Häfen der Anrainerstaaten Bulgarien, Georgien und der Türkei, die sich den Folgen nicht entziehen können.
„Toxisch“ auch ohne Embargo
Käufer wie Verkäufer weltweit sind verunsichert, welche Reedereien, Terminals oder Hafenbetreiber – ob russisch oder mit russischen Firmen verbunden – von US- und europäischen Sanktionen belegt sind. Die Folge ist bemerkenswert: Auch ohne Handelsembargo ordern Kunden auf dem Weltmarkt in vorauseilendem Gehorsam schon weniger russische Waren. Und auch die Exporteure halten sich zurück, weil sie wegen der massiven Behinderungen im Zahlungsverkehr nicht wissen, ob ihre Rechnungen beglichen werden.
Besonders zu spüren bekommt das wohl der wichtigste russische Hafen Novorossijsk, der nur 200 Kilometer von der ukrainischen Hafenstadt Mariupol entfernt liegt, die von russischem Militär bombardiert wurde und umzingelt ist. Wohl zielen Sanktionen der EU auf den Handelshafen, doch soll das Be- und Entladen nicht verboten sein, solange keine sanktionierten Banken an der Transaktion beteiligt sind. Dennoch haben Reedereien geplante Buchungen für die dortige Aufnahme von Rohöl storniert, berichtet die auf Energie spezialisierte Nachrichtenagentur Platts, weil „Kriegsrisikoprämien“ von Versicherern die Kosten dramatisch vervielfachen: Hoch genug, um Käufer seit der russischen Invasion im Februar abzuschrecken.
Am Schwarzmeer-Terminal Novorossijsk endet auch die Ölpipeline des Caspian Pipeline-Konsortiums (CPC), die eine Kapazität von rund 60 Millionen Tonnen/Jahr hat. Darüber speist Kasachstan kaspisches Erdöl ein. Die Nachfrage nach russischem Öl, von dem normalerweise 5 Millionen Barrel/Tag und 2,7 Millionen Barrel/Tag Raffinerieprodukte exportiert werden, ist eingebrochen, schrieb dieser Tage die „Financial Times“. Die Frachtraten für Tanker, die russische Häfen anlaufen, hätten sich mehr als verdreifacht. Was nicht über Pipelines nach Europa oder Fernost gelange, also 70 Prozent der Rohölexporte, finde selbst bei Rekordrabatten „kaum Käufer“.
Beim Umschlag von Massengütern wie Rohöl, Chemikalien und flüssigen Agrarprodukten steht der Hafen Novorossijsk nach Primorsk westlich von St. Petersburg und dem Ostseehafen Ust Luga in Russland an dritter Stelle – bei (trockener) Schüttgutfracht wie Kohle oder Getreide laut dem Info-Portal Signal auf Platz zwei. 230 Millionen Tonnen wurden im Jahr 2021 wurden laut Lloyd’s List Bulk-Carrier in allen Schwarzmeerhäfen verladen. Verspätungen und massive Kostensteigerungen werden auch hier Spuren hinterlassen. Ukrainische Häfen schlugen 2021 rund 153 Millionen Tonnen Fracht und eine Million Container um.
Öltanker kreuzen Weltmeere
Nach Schätzungen kreuzen inzwischen Dutzende Öltanker die Weltmeere, ohne zu wissen, wer ihnen die russische Fracht abnimmt. In Schottland wurde einer von mehr als 200 Tankern der Reederei Sovcomflot abgewiesen, die für Kunden wie Lukoil und Gazprom die größte russische Flotte für Rohöl Flüssiggas und Ölprodukte unterhält. Der Besitzer, die staatliche SCF Gruppe, steht auf der schwarzen Liste Washingtons mit Unternehmen und Banken, denen Handelsfinanzierungen untersagt sind.
Die insgesamt explodierenden Risiken und Kosten im Schiffsverkehr umschrieb der Leiter des israelischen Informationsdiensts Windward Amy Daniel als „Erdbeben“. Man habe zusehen können, wie russisches Rohöl toxisch wurde, sagte er der „Times of Israel“. Das gleiche gelte auch für Tanker aus Russland. Etwa 2000 von weltweit 44.000 Fracht- und Tankschiffen seien in Russland registriert. Vor dem Hintergrund des Sanktionsrisikos müsse jeder einzelne Vertrag neu verhandelt werden.
Experten weisen darauf hin, dass das meiste Rohöl, das gegenwärtig auf hoher See einer unsicheren Bestimmung entgegendümpelt, noch vor dem Ukraine-Krieg geordert und bezahlt wurde. Wie sich der Handel weiter verändern werde, hänge auch davon ab, wie die EU sich zu russischen Energielieferungen positioniere. Es könnte sein, dass sich die EU einem Verbot Großbritanniens anschließe und die Seehäfen für russische Transporte schließen – also ihnen die Einfahrt verwehre.
Doch eine solche Entscheidung lässt auf sich warten. Der größte europäische Hafen in Rotterdam, stellte ebenso wie die Hafenbetreiber in Hamburg klar, dass russische Waren, die nicht unter Sanktionen fallen, weiterhin abgefertigt würden. Doch das Volumen dürfte schrumpfen – in Europa wie im Schwarzen Meer –, zumal die führenden europäischen Containerreedereien Maersk (Dänemark), MSC (Schweiz) und CMA (Frankreich) ankündigten, keine Buchungen für Transporte von oder nach Russland mehr anzunehmen. Ausgenommen sind Lebensmittel, Medikamente und humanitäre Hilfsgüter.
Eines der im Hochrisikogebiet des Schwarzen Meeres gestrandeten Schiffe ist die deutsche „Joseph Schulte“. Das laut Bloomberg letzte Containerschiff, das vor der Invasion in ukrainischen Gewässern Anker warf, bediene den „Bosphorus Express“: eine Route nach Asien mit Stopps in China, Singapur, Südkorea und Beirut, die von der chinesischen Reederei Cosco betrieben wird. Anders als die europäische Konkurrenz hat Cosco noch keine russischen Buchungen abgesagt.