Normalerweise sind um diese Jahreszeit im Hafen von Odessa die Ernten weitgehend verschifft. Bis Februar haben Arbeiter an dieser Stelle am Schwarzen Meer zig Millionen Tonnen Weizen, Gerste und Sonnenblumenkerne auf Frachter geladen. Nur der Export von Mais zieht sich durch den Frühling bis zum Frühsommer hin. Allerdings, so melden Positionsdaten von Schiffen, hat den wichtigsten Hafen der Ukraine seit dem russischen Überfall kein einziges großes Containerschiff mehr angelaufen. Das Land ist weitestgehend vom internationalen Seehandel abgeschnitten.
Das sind potenziell sehr gefährliche Nachrichten für die Versorgung der Welt mit einem wichtigen Grundnahrungsmittel: Getreide. Bayer-CEO Werner Baumann warnt sogar vor einer Welternährungskrise.
Sicher ist: Weite Teile in der südlichen und östlichen Ukraine sowie in den angrenzenden Gebieten Russlands haben sich in den vergangenen 30 Jahren zur bedeutendsten Kornkammer des Planeten entwickelt. Die Schwarzmeerregion trägt mehr als 30 Prozent zum Welthandel mit Weizen bei und jeweils mehr als 20 bzw. 70 Prozent bei Sonnenblumen und ihrem Öl. Bei Gerste ist es mehr als ein Viertel und bei Mais rund 17 Prozent.
Ein Fünftel des Weizens kommt aus Russland
Noch in den frühen 1990er-Jahren – nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion – war die Region ein Nettoimporteur von Getreide. Beide Länder investierten stark in Produktion und Lagerkapazitäten, und zogen auch international Kapital an. Geografisch und klimatisch gesehen ist Russlands landwirtschaftliche Nutzfläche mit über 200 Millionen Hektar extrem groß. In Deutschland sind es 17 Millionen Hektar. Bei Weizen hat Russland die Nase vorn und stellt heute einen Anteil von etwa 20 Prozent an den globalen Ausfuhren.
Die Schwarzerde-Böden in der Süd-, Zentral- und Wolgaregion seien sehr fruchtbar, die Bedingungen für den Anbau von Weizen grundsätzlich vorteilhaft, so das Leibniz-Institut für Agrarentwicklung in einer Analyse von 2019. Zudem profitiere Russland von günstig gelegenen Häfen am Schwarzen Meer, über die der größte Teil des Getreides exportiert wird. Die Schwarzmeerhäfen liegen näher an den nachfragestarken Absatzmärkten im Mittelmeerraum und am Suezkanal als alle anderen Händler von Agrarrohstoffen dieser Welt.
Große Abhängigkeiten
Heute machen die Exporte von Russland und der Ukraine etwa zwölf Prozent der weltweit gehandelten Kalorien aus, schreiben die Experten des Internationalen Forschungsinstituts für Ernährungspolitik (IFPRI), Joseph Glauber und Daniel Laborde. Bei vielen Getreidearten gehören die beiden Länder zu den fünf größten Exportländern weltweit.
Russlands Krieg schneidet die Welt somit von einer schwerlich zu ersetzenden elementaren Nahrungsmittelquelle ab. Während die Ukraine gerade Exportverpflichtungen über 14 Millionen Tonnen Mais gegenüber Nahost, Nordafrika und China nicht erfüllt, berichten Agrarmarktexperten bereits von stillliegenden russischen Häfen.
Die Sanktionen des Westens zeigen demnach erste Wirkung: Einkäufer beginnen russische Exportangebote von Weizen zu meiden, weil sie wegen der teilweisen Bankenblockade nicht sicher sind, wie sie bezahlen sollen, umgekehrt wissen Exporteure nicht, ob sie ihr Geld bekommen. Der wichtigste Exporthafen Noworossijsk – auch der Haupthafen der russischen Schwarzmeerflotte – steht auf der Sanktionsliste des Westens.
Der Sektor, in den Präsident Wladimir Putin noch 2019 neue Investitionen von 60 Mrd. Euro bis 2035 angekündigt hatte, könnte jetzt am Weltmarkt zwar von einem fallenden Rubel profitieren. Doch wird die Branche von den Folgen seines Krieges lahmgelegt. Ähnlich in der geschundenen Ukraine: Landwirte melden sich derzeit eher als freiwillige Kämpfer als an die nächste Aussaat zu denken. Wenn der Konflikt sich weiter zuspitzt und anhält, steuert die Produktion in diesem Teil der Kornkammer kriegsbedingt auf eine Missernte im Herbst zu.
Preise höher als im Krisenjahr 2008
Dabei steht der wichtigste Gradmesser für die Preise von Agrarrohstoffen – der Food Price Index der Welternährungsorganisation FAO – schon jetzt auf Alarm. Im Februar stieg der Index auf einen neuen Allzeithöchststand von 140,7 Punkten. Das sind 20,7 Prozent mehr als der Vorjahreswert. Schon der Index im Januar war auf ein Zehnjahreshoch gestiegen, für die der Chefökonom Abdolreza Abbassian Ernteeinbußen, teure Düngemittel, logistische Probleme und hohe Energiepreise als Gründe nannte.
Alles treffe auf eine insgesamt steigende Nachfrage an Agrargütern, so die FAO weiter, während Pandemie-bedingte Lockdowns und gesunkene oder weggefallene Einkommen ebenso eine Rolle gespielt hätten. Bereits im ersten Jahr der Pandemie haben Agrar-Rohstoffe 2020 laut FAO auf dem Weltmarkt insgesamt 31 Prozent mehr gekostet als ein Jahr zuvor. Ölsaaten wie Raps doppelt so viel. Auch der Preis für Mais hat sich nahezu verdoppelt, Weizen und Soja wurden ebenfalls deutlich teurer, weil zum Beispiel die Kosten der Lagerhaltung in Corona-Zeiten gestiegen waren.
So hat der Nahrungsmittelpreisindex in jedem Fall schon im Januar das Niveau auf dem Gipfel der Nahrungsmittelpreiskrise im März 2008 übertroffen. „Und er wird weiter steigen“, warnt Marita Wiggerthale, Expertin für globale Agrarfragen und Welternährung bei Oxfam. Der Ukrainekrieg ist darin noch gar nicht eingepreist. Auch die Maispreise pro Bushel seien ähnlich hoch wie 2008. Ganz zu schweigen von den Ölpreisen, die sich zuletzt dem Stand der Nahrungsmittelkrise von 2008 bedrohlich näherten. „Damals waren 50 Prozent des Preisanstiegs auf höhere Rohölpreise zurückzuführen“, blickt Wiggerthale auf die Krise zurück.
Der Süden zahlt den Preis
Wegen der drastisch gestiegenen Lebenshaltungskosten gab es damals in mehr als 20 Ländern Unruhen. Geben die Deutschen im Schnitt nur etwa zwölf Prozent für Lebensmittel aus, so sind es im Globalen Süden zwischen 60 und 100 Prozent. Deshalb warnen nicht zuletzt das Welternährungsprogramm und Organisationen wie die Welthungerhilfe davor, die Konsequenzen der jüngsten Preisexplosion für die globale Ernährungssicherheit und besonders für gefährdete Regionen zu unterschätzen. Das gilt besonders für Niedrigeinkommensländer, die von Lebensmitteleinfuhren abhängig sind, und deren Ernährungslage sich in der Corona-Pandemie schon drastisch verschlechtert hat.
Bedeutende Importländer wie Ägypten und Nigeria, aber auch Indonesien beziehen ihr Getreide in zunehmendem Maße aus der Schwarzmeerregion. Verknappungen wie durch die kriegerischen Auseinandersetzungen wirken dort als explosive Preistreiber. Exportbeschränkungen, wie sie die Ukraine als viertgrößter Weizenlieferant am Montag zum Schutz der eigenen Versorgung für Weizen, Geflügel, Sonnenblumenöl und andere Agrargüter verhängte, verschärfen die Lage zusätzlich. Vom ukrainischen Weizen ging nach Angaben der US-Agrarbehörden 36 Prozent nach Ost- und Südostasien – vor allem Indonesien, Pakistan und Bangladesh – gefolgt von 31 Prozent in die EU, 16 Prozent nach Afrika und 14 Prozent Richtung Nahost, vor allem nach Ägypten.
Das IFPRI-Institut mahnt, besonders vulnerable Länder in den Blick zu nehmen, die hohe Abhängigkeiten von der Schwarzmeerregion haben. Darunter bereiteten die Länder in Nahost und Nordafrikas besondere Sorge, die über 50 Prozent ihres Getreidebedarfs aus der Ukraine und Russland deckten. Kenia soll sich zu rund 70 Prozent in der Region eindecken. Bei Mais gelten neben der EU (zumeist für die Tierhaltung) und China auch Länder wie Ägypten und Libyen als vulnerabel. Nach der so genannten weltweiten „Import Bill“ wurden im vergangenen Jahr Getreide im Wert von 248 Mrd. Dollar importiert, davon 147 Mrd. Dollar in Entwicklungsländern.
Eine globale Versorgungskrise sagt die FAO trotz ihrer Preiswarnungen noch nicht voraus, da die Weltgetreideernte 2021 knapp über dem Vorjahresniveau gelegen habe und damit „global gesehen die Bestände ausreichend“ seien. Dennoch stellt sich die Frage, wer in die Bresche springt, wenn die Aussaat in der Ukraine ausfällt und russische Häfen weiter gemieden werden. Die USA, die von Russland als Weltmarktführer bei Weizen verdrängt wurden, haben nur noch einen Weltmarktanteil von 10,8 Prozent, Australien kommt auf 12,5 Prozent und die EU auf 18 Prozent. Bei Mais liegen die USA noch vorn mit 31,5 Prozent, gefolgt von Argentinien (21,5 Prozent) und Brasilien (16,4 Prozent).
Düngerpreise belasten Produktion
Auch die Preise für Düngemittel werden durch den Krieg unmittelbar in die Höhe getrieben. Russland und Belarus, ein treuer Partner Putins, sind zusammen genommen Weltmarktführer für das wichtige landwirtschaftliche Betriebsmittel. „Weitere Engpässe werden globale Konsequenzen haben“, warnt das IFPRI-Institut, „besonders in Entwicklungsländern, wo Preiserhöhungen erheblich dazu beitragen, dass weniger Dünger eingesetzt wird und die Ernte entsprechend geringer ausfällt – das zu einer Zeit von gesunkenen globalen Lagerbeständen und Rekordpreisen.“
Auch für die nördliche Hemisphäre wird erwartet, dass steigende Düngemittelpreise Lebensmittel verteuern werden. Diese Befürchtung äußerte der Chef des Agrarhändlers Baywa, Klaus Josef Lutz, vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges. „Ich könnte mir vorstellen, dass wir um 15 bis 20 Prozent höhere Lebensmittelpreise sehen“, sagte er den Sendern RTL und n-tv.
Bauernvertreter weisen auch darauf hin, dass die extrem gestiegenen Erdgaspreise vor allem die Herstellung von Stickstoffdünger verteuern. Aber auch die Preise für Phosphatdünger hätten sich bereits verdoppelt. Der Deutsche Bauernverband schließt Ertragsrückgänge bei der Ernte 2022 nicht aus, wenn die Preise auf dem Niveau blieben und es zu Lieferengpässen komme. Russland hatte bereits im Februar einen Exportstopp für den Stickstoffdünger Ammoniumnitrat verhängt, was sich Experten zufolge besonders in Europa und in Brasilien bemerkbar machen wird. Brasilien setzt den Dünger für seine Maisernte ein.