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Capital erklärt Wie Corona das Brexit-Drama beeinflusst

Am Montag sprach Großbritanniens Premier Boris Johnson (M.) per Video mit den Spitzen der europäischen Institutionen. Bei den Brexit-Verhandlungen drängt die Zeit
Am Montag sprach Großbritanniens Premier Boris Johnson (M.) per Video mit den Spitzen der europäischen Institutionen. Bei den Brexit-Verhandlungen drängt die Zeit
© IMAGO / Xinhua
Ach ja, da war ja noch was: der Brexit. Bis zum Jahresende muss ein Handelsabkommen zwischen der EU und Großbritannien stehen. Was die Corona-Krise für den Brexit bedeutet und wie es um die Verhandlungen steht, erklärt Claus Hecking

In unserer Reihe Capital erklärt geben wir einen komprimierten Überblick zu aktuellen Wirtschaftsthemen. Diesmal: Die Verhandlungen um Abkommen im Brexit – mit Redakteur Claus Hecking, bei Capital über EU-Themen schreibt.

Am 1. Februar hat Großbritannien die EU verlassen. Wie laufen die Verhandlungen über ein Partnerschafts- und Handelsabkommen?

Die Verhandlungen sind zuletzt festgefahren. Das liegt vor allem daran, dass sich die Vertreter Großbritanniens bei vielen Themen querstellen, sie sind wenig kompromissbereit. So hätten sie bis zum 1. Juli die Möglichkeit, eine Verlängerungsfrist der Übergangsphase zu beantragen, in welcher der Handel trotz des vollzogenen Brexit ähnlich weiter läuft wie vorher: ohne Zölle, ohne große Kontrollen. Die britischen Unterhändler haben das aber ausgeschlossen; also läuft die Übergangsphase am 31. Dezember wahrscheinlich aus. So haben die Briten die Verhandlungen noch mehr unter Zugzwang gesetzt. Entweder gibt es ein Abkommen - oder den gefürchteten No-Deal-Brexit. Der wird immer wahrscheinlicher.

An welchen Punkten ist die Sache festgefahren?

Die EU möchte, dass sich Großbritannien im Handelsabkommen zu bestehenden EU-Standards bekennt: vor allem bei Umweltschutzregeln, Staatshilfen und Arbeitnehmerrechten. Ohne diese Standards oder Kontrollen könnte Großbritannien den eigenen Unternehmen Wettbewerbsvorteile verschaffen. Ein anderes wichtiges Thema ist die Fischerei. Selbst als Großbritannien noch in der EU war, gab es immer wieder Uneinigkeit, wer wo fischen darf. Die Briten wollen ihre Fischerei so gut wie möglich schützen, ebenso die EU.

Diesen Montag haben sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, Großbritanniens Premier Boris Johnson und anderer Spitzenpolitiker in einer Videokonferenz vereinbart, die Gespräche zu intensivieren. So soll vom 29. Juni an vier Wochen hintereinander verhandelt werden. Im August sollen die Gespräche fortgeführt werden. Aber ob es Fortschritte geben wird, ist fraglich. Klar ist nur eins: wenn es doch noch ein Abkommen gibt, dann auf den allerletzten Drücker.

Welche Rolle spielt die Corona-Krise?

Es gibt Spekulationen, dass die britische Regierung jetzt möglichst schnell den Brexit abschließen will, um die ökonomischen Schäden unter denen der Corona-Krise zu begraben. Großbritannien erlebt zurzeit die stärkste Rezession seit über 300 Jahren. Damals 1708/09 gab es den „great frost“, einen extrem kalten Winter. Der Vergleich zeigt die enormen Ausmaße des jetzigen Konjunktureinbruchs. Großbritanniens Wirtschaft wird so oder so stark schrumpfen – ob mit geregeltem oder ungeregeltem Brexit. Niemand könnte beziffern, welcher Anteil an diesem Minus ein No-Deal-Brexit hätte. Niemand könnte die Entscheider für die ökonomischen Schäden verantwortlich machen.

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Was ist von Boris Johnson zu erwarten?

Boris Johnson steht unter Druck. Viele Menschen sind überzeugt, dass seine Regierung in der Corona-Krise versagt hat. Erst hat sie mit dem Gedanken einer Herdenimmunität gespielt, dann die Strategie umgeworfen und doch noch den Lockdown eingeleitet – später als in anderen Staaten. Und Johnson selbst war wochenlang außer Gefecht, da er schwer erkrankt war. Der Lockdown in Großbritannien dauert bis heute an - und ist härter als in vielen anderen kontinentaleuropäischen Staaten. Zugleich sind die Infektions- und Todeszahlen die mit Abstand höchsten in ganz Westeuropas. Und oben drauf ist die Wirtschaft schwer geschädigt. Johnson wird jetzt versuchen, seine eigene Wählerschaft so gut wie möglich hinter sich zu bringen. Das Gros dieser Wähler wollte einen Brexit, viele sogar einen möglichst kompromisslosen.

Welche Auswirkungen wird die Rezession auf die Gesellschaft haben?

Sie wird die Menschen in Großbritannien lange belasten. Schon in den kommenden Monaten könnte es zu zahlreichen Entlassungen kommen. Und oben drauf kommt dann zum Jahreswechsel womöglich auch noch der No-Deal Brexit. Darunter werden viele Bürger leiden.

Wieviel Zeit bleibt, um Kompromisse zu finden?

Bis zum 31.12.2020. In dieser Brexit-Saga gab es schon so viele Verschiebungen oder Durchbrüche in letzter Minute. Auch dass die Übergangsphase doch noch verlängert wird, halte ich nicht für ausgeschlossen. Wichtig wäre jetzt, dass sich die verantwortlichen Spitzenpolitiker bald bei den wesentlichen Punkten annähern. Dann könnten die Diplomaten und Fachleute über die Details verhandeln und Kompromisse ausloten; sowas dauert erfahrungsgemäß auch noch Monate. Im Moment habe ich aber nicht den Eindruck, dass die britische Regierung echtes Interesse hat, die Verhandlungen voranzubringen. Die lassen sich jetzt erst mal Zeit.

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