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Dystopie Was passiert, wenn wir unser Leben dem Klimaschutz unterordnen?

Ein Blick ins Jahr 2024
Ein Blick ins Jahr 2024
© David Boller
Für den Klimaschutz sollen wir unser Verhalten ändern. Viele wollen es auch regeln und kontrollieren. Wie weit aber dürfen wir gehen? Eine Vision aus dem Jahr 2024
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Es war der 24. Oktober 2024, morgens kurz vor 7 Uhr, als Wolfgang Güterich eine Nachricht auf seine Ecowatch bekam. „Climate-Alert! Sie haben 98 Prozent Ihres CO₂-Volumens verbraucht.“

Wolfgang sprang auf, schaltete die Kaffeemaschine ab, in der gerade eine Kapsel auf heißes Wasser wartete. Egal, dachte er, das Zeug schmeckte eh nicht mehr, seitdem die Kapseln aus Maisstärke waren.

„98 Prozent“, murmelte er, „das kann nicht sein, das muss ein Fehler sein.“ Er ging zu einem Gerät an der Wand und drückte eine Taste, auf der „Eco-Check“ stand.

„Was machst du da, Papi?“ Lukas kam die Treppe herunter, ein blonder Junge, morgen wurde er sieben Jahre alt. „Nur ’nen Eco-Check.“ „Hat Mami gestern auch gemacht, weil wir auf 85 Prozent waren.“

„Was ist denn los?“ Sonja kam mit Lina auf dem Arm, ihrer Tochter, fünf Jahre alt. „Stimmt was mit unserem CO₂ nicht?“ „Unser Carbonometer ist auf 98 Prozent.“ „Was stimmt nicht?“, krähte Lina.

„98? Das kann nicht sein!“ Sonja schnappte sich ein iPad und öffnete die Carboncount-App. „Ah, ich sehe, der Eco-Check läuft schon.“

„Müssen wir jetzt im Dunklen leben?“, fragte Lukas. „Quatsch“, sagte Sonja, „alles gut.“ Aber ihre Wangen, die bei Stress augenblicklich eine kleine Röte bildeten, zeigten, wie angespannt sie war.

„Ein Flugzeug!“, schrie Lina vergnügt und zeigte auf den Himmel durch die Nano-Thermoscheiben. „Wann dürfen wir mal fliegen?“ „Nächstes Jahr“, sagte Sonja.

„Wenn dein Vater sich mal an die Regeln hält“, sagte Wolfgang. „Vermutlich hat er wieder nächtelang im Keller rumgebastelt. Deshalb haben wir 98. Ich habe ihm schon x-mal gesagt, dass er seine Steinzeitbohrer und Lötkolben nicht benutzen soll. Außerdem dreht er sich immer heimlich ’ne 60-Watt-Birne rein.“

„Lass Paps in Ruhe.“ Sonja drehte sich um. „Er hat es schon schwer genug, seit Mama tot ist. Der Hobbykeller ist seine Höhle.“

„Na ja, ich habe bloß keine Lust, hier wieder das CO₂-Serviceteam im Haus zu haben.“

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Vor zwei Monaten waren sie gekommen, ein Mann und eine Frau mit Zöpfen, die so eng gebunden waren, dass ihre Augen zu leichten Schlitzen gezogen wurden. Reine Routine, hatten sie gesagt, nur ein paar Fragen. Sie kamen immer, wenn das Carbonometer zweimal hintereinander über 100 Prozent gelegen hatte. Die Frau hatte Sonja befragt, wie viel sie wäscht und wann („Waschen Sie etwa noch tagsüber?“), wie sie kocht und ob es noch Geräte mit Stand-by-Funktion im Haus geben würde, die seit 2021 verboten waren. Der Mann hatte sich etwas umgesehen, im Wohnzimmer und den Kinderzimmern. Für das Schlafzimmer hatten sie beim zweiten Mal noch keine Befugnis. „Schöne Innendämmung haben Sie“, hatte er gesagt. „Polystyrol?“

„Nein. Hanf.“

„Allergiker?“

„Nein, schien uns natürlicher.“

Die Frau hatte noch gegen einen Heizkörper gehauen. „Bei Ihren Thermostaten müssen Sie mal was machen.“ „Die sind erst drei Jahre alt!“, protestierte Sonja.

„Tja. Und heute dürfen Sie die nicht mal mehr einbauen. Am besten tauschen Sie sie aus – und den Holzofen da“ – die Frau wies auf den schwedischen Glaskaminofen, den sie kurz nach ihrer Hochzeit eingebaut hatten – „… der ist zwar fürs Klima gut, ansonsten aber eine Riesenschweinerei.“

„Aber dadurch ist unser Gasverbrauch um 20 …“

„Bauen Sie sich eine Wärmepumpe ein“, sagte der Mann. „Die gibt’s inzwischen ab 10.000 Euro.“

Eine Stunde waren sie geblieben, es gab ein Protokoll, das Sonja und er unterschreiben mussten. Einen Monat lang würde jede Woche das Carbonometer von der Zentrale kontrolliert. Und sie mussten online einen Fragebogen ausfüllen, ob sie alle neuen Standards kannten. Bei erneutem Verstoß mussten sie zur Klimaschulung. Wenn es dann nicht besser wurde, wurde das Auto heruntergeregelt oder die Software blockiert.

All das waren die Maßnahmen aus dem zweiten Klimaschutzgesetz, das 2022 in Kraft getreten war, ein halbes Jahr, nachdem Deutschland die erste grüne Kanzlerin bekommen hatte. Euphorisch waren damals alle gewesen, die grüne Republik, jetzt endlich würde der Klimaschutz ernst genommen, würde die Welt gerettet!

In dem zweiten Klimaschutzgesetz standen das erste Mal auch „Regeln für das persönliche Verhalten“, nicht nur Ziele, Grenzwerte und Fördermaßnahmen. Bürger mussten in ihren Wohnungen oder Häusern Sensoren zulassen, Zimmer, Auto, E-Roller, Fahrräder, Geräte, alles wurde vernetzt und gemessen. Jede Familie bekam einen monatlichen CO₂-Ausstoß pro Kopf zugewiesen; man konnte sich kaum noch freikaufen. Im ersten Jahr hatte Wolfgang schon ab September nicht mehr fliegen dürfen. 2023 hatten sie ihr Kontingent eingehalten. Dann war der Alte gekommen.

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Als er an einem der Abende, als sie sich wieder Sorgen um ihren CO₂-Ausstoß machten, in den Keller gegangen war, hatte er es gerochen. Den Lötkolben. Ja, er roch sogar den Bohrer. Die Kreissäge. Die ganzen Geräte, mit denen Kurt vor einem halben Jahr eingezogen war. Und er hatte Kurts Ecke durchstöbert und gesehen, dass sich der Alte sogar einen Heizstrahler angemacht hatte.

„Weißt du, was der verbraucht?“, hatte er Kurt angeschrien.

Kurt schaute leer, Sonja weinte. „Lass ihn, Wolfgang … Paps, der Strahler muss raus.“

„Warum?“

„Weil deine Enkel sonst kein warmes Essen bekommen“, schrie Wolfgang. Sonja weinte, Kurt auch.

Inzwischen aber waren solche CO₂-Stresstage fast Routine, an diesem Oktobermorgen sagte Sonja nur: „Dann lass mal einen Plan bis Monatsende machen.“

„Ich kann fünf Nächte im Büro schlafen“, schlug Wolfgang vor. „Da gibt es ein neues Förderprogramm für Pendler.“

„Ach Quatsch, Wolfgang.“

„Da kriege ich Klimameilen.“

Sonja überlegte. „Ich werde versuchen, ob die Kinder die nächsten Tage bei Freunden essen können. Dann sparen wir siebenmal kochen. Und wir trinken nichts Heißes.“

„Und was ist mit meinem Geburtstag?“, fragte Lukas.

„Oh Gott, der ist ja auch noch!“

„Was wollten wir machen?“

„Kinderdisco!“, rief Lukas laut. „Und Popcornkino!“

„Mein Schatz, wie denken uns was Neues aus.“ „Mord im Dunklen oder so“, sagte Wolfgang. „Oder wir gehen auf den Spielplatz.“

Lukas verstummte, Tränen sammelten sich, Sonja sah Wolfgang an. „Das können wir nicht bringen.“

„Ich könnte einen CarbonCoin verkaufen“, sagte Wolfgang. Für das Mining der Eco-Kryptowährung wurden 100 Prozent Ökostrom eingesetzt, man konnte im Netz dafür Emissionsrechte kaufen.

„Nein, Wolfgang, das ist unsere eiserne Reserve!“

Wolfgang nahm an diesem Morgen den Bus, er würde zu spät zur Arbeit kommen, dicht drängte er sich zwischen Körper, die wie baumelnde Säcke an den Stangen hingen. Ab 98 Prozent war auch sein ShareNow-Zugang eingeschränkt, er würde bis Monatsende mit dem Bus fahren, zumal die Nachbarn wussten, was bei ihnen los war, und sie immer öfter beobachten.

Er schaute auf sein Smartphone, der Akku war noch bei 17 Prozent. „Das reicht noch bis Freitag“, dachte er, zur Not könnte er es heimlich bei Konrad im Büro aufladen, wenn der in die Kantine ging. Konrad war an jedem Monatsende immer erst bei 75 Prozent, was er breit und laut im Büro erzählte. „Wenn du Tipps brauchst“, sagte er zu Wolfgang gern, „jederzeit. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, dass du immer noch recht viel Fleisch ist. Wenn du das Öko-Menü nimmst, spart das CO₂.“

Der Bus fuhr vorbei an Vorstadthäusern, die wie kleine Energiesparschachteln zwischen ihren Rasenflächen lagen. Es sah nicht mehr so ordentlich aus wie früher, als man noch einmal pro Woche mähen durfte, außerdem mussten mindestens 50 Prozent wilde Blühwiese sein, die man alle drei Jahre mit einer Elektrosense kappen durfte.

Was hatte sich alles verändert! Viel hatten sie erreicht, seit der Wohnwendeplan der Kommune in ihrem Viertel umgesetzt wurde. Nur noch fünf oder sechs U-Häuser waren in der Straße (U stand für ungedämmt), man erkannte sie an dem roten „U“, mit denen sie vor einigen Jahren markiert worden waren. Drei Jahre hatten die Bewohner noch Zeit, sie zu dämmen. Danach gab es Strafen, dann wurde zwangsgedämmt. Ölheizungen waren seit 2023 verboten.

Wolfgang schaute auf eine Displaywerbung im Bus. Tanzende Menschen, Bienen, Wiesen. Dann poppte ein Slogan noch: „Wer verbraucht, ist bald verbraucht.“ Daneben ein Plakat mit altem Haus: „Sei nicht so dämmungslos.“ Und klein darunter: „Schau auch du, was du tun kannst, damit die Wende gelingt.“ Das war diese Kampagne, die der greise Bundespräsident Kretschmann neulich gestartet hatte.

Wolfgang stieg aus, er ging an diesem Morgen, ohne seinen täglichen Podcast zu hören (sein Akku!), auf der rechten Spur des Mobilitätsweges, neben ihm die Spur für Radfahrer, daneben die für E-Roller, daneben die Share-Spur.

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Eine kleine Gruppe Kinder zog an ihm vorbei, sie alle hatten grüne Halstücher. Sie sangen: „Kinder, zur Sonne, zum Winde / denn beides ist für immer da.“ Als er einmal mit Kurt unterwegs gewesen war, hatte der gesagt, das Lied erinnere ihn an seine Kindheit in Leipzig. „Ist gut, Paps“, hatte Sonja gesagt.

Wolfgang wurde an diesem Morgen klar, dass der Alte rausmusste. Raus aus dem Keller, raus aus ihrer Klimabilanz. Er atmete die frische Luft ein und schloss die Augen. „Wir schaffen das“, dachte er.

Der Beitrag ist in Capital 08/2019 erschienen. Interesse an Capital? Hier geht es zum Abo-Shop , wo Sie die Print-Ausgabe bestellen können. Unsere Digital-Ausgabe gibt es bei iTunes und GooglePlay

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