Der Arbeitsmarkt scheint paradox. Während landläufig von Rezessionsängsten und Jobverlusten die Rede ist, hat das Statistische Bundesamt in dieser Woche Rekordzahlen vorgelegt. Noch nie waren seit der Wiedervereinigung so viele Menschen erwerbstätig wie im vergangenen Jahr. Im Jahresdurchschnitt ist die Zahl um 1,3 Prozent auf 45,6 Mio. Menschen gestiegen – und hat damit den bisherigen Rekordwert von 45,3 Mio. aus 2019 übertroffen.
Doch wie passt das zusammen, wenn nahezu alle Ökonomen vor einer Rezession warnen – und die Rufe im vergangenen Jahr sogar noch lauter waren als jetzt? Das sei im Prinzip ganz einfach, erklärt Arbeitsmarktforscher Enzo Weber gegenüber Capital. „Wenn die Beschäftigten, wie in Deutschland, das knappste Gut sind, dann lässt man diese nicht gehen, nur weil wir gerade eine Energiekrise haben.“
Der Ökonom am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hält den Arbeitsmarkt grundsätzlich für robust, weil die Rezessionssorgen exogen begründet seien – durch den Ukraine-Krieg zum Beispiel, Lieferkettenprobleme oder steigende Preise. Die demografische Entwicklung sei das eigentliche und strukturelle Problem, das die Unternehmen umtreibt. „Wir sehen seit 2009 eine rückläufige Entlassungsquote. Die Firmen halten ihre Mitarbeiter durch schlechte Zeiten hindurch, weil der Jobmarkt im Boom nicht genügend Arbeitskräfte stellen kann.“
Hohe Ersparnisse nach Corona
Auffällig seien jetzt allerdings zwei Branchen: Der Dienstleistungsbereich – und konjunkturresiliente Bereiche wie Pflege oder Verwaltung. Der Dienstleistungsbereich steht laut Statistischem Bundesamt für 93 Prozent des Zuwachses. Hier kletterte die Zahl der Erwerbstätigen um 1,6 Prozent gegenüber einem Plus von nur 0,4 Prozent im Produzierenden Gewerbe. „Das waren auch noch Corona-Nachwirkungen“, sagt Weber. „Und diese Bereiche, sei es Gastro, Luftfahrt oder Veranstaltungen suchen noch immer händeringend Mitarbeitende.“
IAB-Direktor Bernd Fitzenberger sieht hier auch noch das größte Potenzial für die Zukunft: „Die breite Mittelschicht hat nach der Corona-Krise Ersparnisse, die sie für Dienstleistungen ausgeben kann – und das teilweise auch muss. Zum Beispiel für die Kinderbetreuung. Das Potenzial bei Dienstleistungen ist insgesamt sehr hoch.“ Auch deshalb sei qualifizierte Zuwanderung in diesen Bereichen so wichtig. Tatsächlich wurde das jüngste Plus unter anderem durch Zuwanderung erreicht. Aber auch mehr Inländer beteiligten sich am Erwerbsleben, so dass insgesamt etwas mehr Menschen in den Arbeitsmarkt ein- als austraten.
Diese Entwicklungen gelten aber nicht für alle Bereiche. Ein schwieriges Jahr hatte beispielsweise das Produzierende Gewerbe – „das Rückgrat der deutschen Wirtschaft“, wie Fitzenberger sagt. Auch hier arbeiteten 2022 zwar 0,4 Prozent mehr Menschen als im Jahr zuvor, doch insgesamt war das Wachstum vergleichsweise schwach – und zeigt bereits, dass die Firmen vorsichtiger bei Neueinstellungen von hochbezahlten Arbeitskräften werden. Noch schlechter entwickelte sich vor allem die Land- und Forstwirtschaft (-0,5 Prozent) sowie die Zahl der Selbstständigen (-1,4 Prozent).
Höhere Zinsen durch robusten Arbeitsmarkt?
Bekannte Internationalen Medien wie die „Financial Times“ griffen die Zahlen ebenfalls auf und werteten sie als Indiz für weitere Zinssteigerungen der EZB. Die Idee dahinter: Der Arbeitsmarkt sei nicht nur in Deutschland eng, sondern in der gesamten Eurozone. Knapp 30 Prozent aller europäischen Unternehmen klagen über fehlendes Personal. Das verbessert die Position für Arbeitnehmer in Lohnverhandlungen, was zu einer Lohn-Preis-Spirale führen könnte. „Wir erwarten zwar eher einen moderaten Anstieg der Löhne“, sagt daher ING-Analyst Bert Colijn. Für die EZB wäre das allerdings trotzdem ein Warnzeichen, da sie in höheren Lohnforderungen eine zusätzliche Gefahr für noch höhere Inflationsraten sieht. Firmen würden die höheren Personalkosten dann an ihre Kunden weitergeben, die wiederum das gleiche tun. Zwar sind die Preissteigerungen in Deutschland zuletzt überraschend gering ausgefallen – und lagen bei 8,6 Prozent. Der Logik nach müsste die EZB dann aber trotzdem die Zinsen anheben.
Die IAB-Ökonomen Weber und Fitzenberger sehen diese Gefahr allerdings weniger. „Die Inflation ist exogen begründet. Wir kommen erst in eine arbeitsmarktgetriebene Lohn-Preis-Spirale, wenn die Lohnabschlüsse über der Inflationsrate liegen. Das sehen wir aktuell nicht“, sagt Fitzenberger. Im Gegenteil, meint der Mannheimer Ökonom Tom Krebs: „Wir hatten in 2022 einen Reallohnverlust von 5,7 Prozent – das ist der höchste Verlust, den wir in der Bundesrepublik Deutschland jemals gehabt haben. Die Anpassung auf dem Arbeitsmarkt ist also zu großen Teilen über den Reallohn erfolgt.“ Ohnehin sei der Lohn nur einer von vielen Aspekten in Vertragsgesprächen. „Wir beobachten, dass Arbeitnehmer ihre bessere Position häufig dafür nutzen, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern – zum Beispiel durch mehr Homeoffice oder eine 4-Tage-Woche.“ Das wisse auch die EZB.