Es war ein Moment, der Europa den Schock durch die Glieder jagte: In der letzten Augustwoche dieses Jahres erreichte der Preis für Erdgas auf dem europäischen Markt einen neuen Rekord: 346 Euro betrug der Preis im Terminkontrakt pro Megawattstunde am niederländischen Referenzpunkt TTF – ein Allzeithoch, mehr als das Zehnfache dessen, was ein Jahr zuvor bezahlt worden war. Ein Horrorszenario für Verbraucher und eine stark von Energielieferungen abhängige Industrie.
Seitdem allerdings geht der Gaspreis Schritt für Schritt zurück, und zwar deutlich. Als Russland de facto das Ende seiner Lieferungen durch die Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 bekannt gab, kam es noch einmal zu einem kurzen, scharfen Ausschlag nach oben, der sich allerdings im Laufe eines Tages erledigt hatte. Am Montag, dem 12. September dann fiel der TTF-Referenzwert auf unter 190 Euro, also satte 43 Prozent unter dem Rekordhoch. Ein Trend, der sich fortsetzen dürfte. „Die TTF-Preise werden den Winter über weiter fallen“, heißt es in einem aktuellen Marktbericht der Investmentbank Goldman Sachs. Die Analysten gehen von einem Preis von 100 Euro im ersten Quartal 2023 aus.
„Die erste Krise ist aus den Köpfen raus“
Was geschieht da – und was bedeutet das für die so stark gebeutelten Energiemärkte?
Für den Rückgang der Gaspreise gibt es aus Sicht von Experten mehrere Gründe. Zum einen ist es Deutschland, also dem größten Erdgaskunden der EU, gelungen, seine heimischen Speicher deutlich früher zu füllen als ursprünglich geplant. Der Füllstand liegt jetzt bei 85 Prozent, einem Wert, der eigentlich erst für Anfang Oktober vorgegeben war. Das sichert noch lange keine Versorgung, aber es nimmt einen Teil der Panik aus dem Markt. „Die erste Krise ist damit aus den Köpfen raus“, sagt Salomon Fiedler, der bei der Berenberg Bank die Energiemärkte beobachtet. „Die Bundesregierung deutet ja damit auch an, dass sie nun nicht mehr jeden Preis auf dem Weltmarkt zahlen wird.“
Es dürfte hinzukommen, dass der russische Energiekonzern Gazprom mit seinem Lieferstopp durch Nord Stream im Grunde die letzte Karte gezogen hatte. Der Anteil russischen Gases am Aufkommen in der EU ist inzwischen auf neun Prozent gefallen, von 40 Prozent in der Zeit vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Die russische Energiewaffe ist damit vorerst stumpf geworden. Sie beginnt inzwischen auch, dem russischen Staatshaushalt empfindlich zu schaden: Der staatliche Budgetüberschuss aus dem ersten Halbjahr 2022 hat sich inzwischen angesichts ausbleibender Einnahmen aus dem Öl- und Gasgeschäft annähernd in Luft aufgelöst.
Die hohen Preise der vergangenen Monate haben wiederum neue Anbieter angelockt. Europa importiert zunehmend Flüssiggas (LNG), auch Länder wie Israel hoffen jetzt, eine Rolle auf dem Markt für Gaslieferungen spielen zu können. Goldman Sachs kommt in seinem Bericht zu einem wohlwollenden Urteil über die Einkaufspolitik der EU: „Europa hat das Puzzle in den vergangenen zwölf Monaten erfolgreich gelöst“, heißt es da, „mit einer Kombination aus reduzierter Gasnachfrage in Europa und LNG-Käufen in aller Welt“.
Ein Ende der Energiekrise ist nicht in Sicht
Ein weiterer Faktor: Die Europäische Union diskutiert mittlerweile sehr intensiv über einen Preisdeckel für Erdgasimporte. Wie der genau aussehen soll, ob er sich nur auf Pipeline-Gas oder auch auf Flüssiggaslieferungen bezieht, ist zwar noch unklar. Allerdings wird den Märkten auf diese Weise schon signalisiert, dass es entschiedene staatliche Eingriffe geben wird – was erst einmal dämpfende Wirkung auf die Preise haben dürfte.
Die meisten Beobachter weisen allerdings auch darauf hin, dass noch lange kein Ende der Energiekrise – und der damit verbundenen Belastungen für Industrie und Verbraucher – in Sicht ist. Auch der von Analysten erwartete Gaspreis von 100 Euro ist immer noch etwa fünfmal so hoch wie vor dem russischen Überfall auf die Ukraine. Und selbst bei einer großen Zahl neuer Anbieter und sparsamem Einsatz dürften die alten Preise kaum wieder erreicht werden. „Wir müssen uns wohl auf Dauer auf ein höheres Preisniveau einstellen“, sagt Berenberg-Analyst Fiedler, auch wenn er für die Zeit nach der anstehenden Rezession von „technologischen Anpassungen“ und „neuen Quellen“ ausgeht.
Die Goldman Sachs-Gasmarktexpertin Samantha Dart ist überzeugt, dass Einsparungen und neue Lieferanten letztlich dazu führen werden, dass die EU zumindest das Mengenproblem in den Griff bekommt, es also nicht zu Liefermängeln beim Erdgas kommen wird. „Wenn man sich die Logistik anschaut, geschieht gerade eine ganze Menge“, so Dart in einer aktuellen Analyse. „Der Bau neuer Infrastruktur, mit der mehr LNG importiert werden kann, ist ein gutes Beispiel dafür.“ Allerdings wird die EU danach auch Geduld aufbringen müssen. „Es dauert, bis Investitionen sich in einem größeren Angebot niederschlagen“, sagt Dart. „Europa wird ein kleines bisschen länger brauchen, um diese Krise hinter sich zu lassen.“