Heute haben EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel das Brexit-Abkommen unterschrieben, um das Großbritannien und die EU bis zum letzten Moment gerungen haben . Auch das britische Unterhaus stimmte heute dem Brexit-Deal zu. Damit ist der gefürchtete No-Deal-Brexit erst einmal vom Tisch. Schon in zwei Tagen – pünktlich zum Jahreswechsel – soll das frisch ausgehandelte Abkommen provisorisch in Kraft treten. Dann verlässt Großbritannien die Zollunion und den Europäischen Binnenmarkt. Damit ändert sich für die europäisch-britischen Handelsbeziehungen Einiges. Denn anders als zum offiziellen EU-Austritt Großbritanniens Anfang 2020 gibt es dann keine Übergangsfrist mehr, sondern eine Neujustierung der wirtschaftlichen Beziehungen auf Grundlage des neuen Handelspakts.
Die Einigung sorgt unter Ökonomen für Erleichterung: Lisandra Flach, Leiterin des Zentrums für Außenwirtschaft am ifo Institut nennt das Abkommen „ein wohlverdientes Weihnachtsgeschenk für Großbritannien und die EU“, IfW-Präsident Gabriel Felbermayr zeigt sich „sehr erleichtert über diese Einigung in letzter Minute“. Beim Warenhandel, im Transportsektor und einigen anderen wichtigen Bereichen habe man verhindert, dass Chaos ausbricht und neue hohe Barrieren wie Zölle und umfassende Flugverbote eingeführt werden müssen, sagt Jürgen Matthes, Leiter des Kompetenzfelds Internationale Wirtschaftsordnung und Konjunktur am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft. „Das hätte die von der Corona-Krise auf beiden Seiten gebeutelte Wirtschaft auf unnötige Weise noch mehr belastet“, sagt er. Dass Produktionsstandards und -zulassungen vorerst weiter gegenseitig anerkannt werden, erleichtere den Handel.
Kurzfristig sei das Handelsabkommen wichtig, um die Unsicherheit in den Handelsbeziehungen zu verringern und damit die Kosten für die Beteiligten zu minimieren, sagt Ifo-Handelsexpertin Flach. „Das Abkommen mildert die langfristigen negativen volkswirtschaftlichen Kosten des Brexit für die deutsche Wirtschaft deutlich ab“, sagt sie.
Unvermeidliche Störungen
Die Ökonomen sind sich allerdings auch einig, dass mit dem Abkommen nicht alle Probleme gelöst sind. „Wir sollten nicht vergessen, dass selbst bei einer Einigung einige Störungen (und vor allem kurzfristige Störungen) unvermeidlich sind“, sagt Flach. Der Brexit führe zu großen neuen Handelshemmnissen wie regulatorischen Barrieren und einer riesigen Menge an neuem Dokumentationsaufwand, die kurzfristig große Störungen verursachen würden, so Flach. Unternehmen und Zollstellen könnten sich nicht über Nacht anpassen. Felbermayr geht daher davon aus, dass es neben neuen Bürokratiebelastungen für manche deutschen Unternehmen zu einer erzwungenen Umgestaltung von Lieferketten kommen wird. „Nur eine Zollunion hätte dieses Problem ausgeräumt, die Boris Johnson leider ausgeschlossen hat“, sagt Felbermayr.
Diese Gefahr sieht auch IW-Ökonom Matthes. Zwar gibt es mit dem Abkommen keine Zölle und erst einmal eine weitgehende Anerkennung von Produktionsstandards. Allerdings werde es Grenzkontrollen geben, was auf „just-in-time“ ausgelegte, grenzüberschreitende Wertschöpfungsketten behindere. „Das Vereinigte Königreich wird damit vermutlich weniger eng in die europäischen Lieferketten eingebunden werden, was dort Arbeitsplätze kosten dürfte“, sagt Matthes.
Mittelfristig könne es sein, dass Produkte doch auf ihre Zulassung kontrolliert werden und so neue (sogenannte nichttarifäre) Handelshemmnisse entstehen. „Beide Seiten können Kontrollen und eigene Zulassungsverfahren einführen, wenn nicht mehr sichergestellt ist, dass die jeweils andere Seite die eigenen Produktstandards ausreichend erfüllt“, sagt er. „Das kann passieren, wenn gewisse Standards sich ändern, etwa falls Brüssel anspruchsvollere Regelungen beschließt, aber London nicht – oder falls die Briten sogar Lockerungen bei bisherigen Standards beschließen sollten.“
IfW-Präsident Felbermayr geht davon aus, dass die Diskussionen und Verhandlungen mit dem Abkommen nicht vorbei sind. Die Nordirland-Regelung werde innenpolitisch im Vereinigten Königreich für Diskussionen sorgen, mit Brüssel seien Streitigkeiten über Interpretation und Implementierung des Textes vorprogrammiert. „Innerhalb der EU werden die unterschiedlichen Kosten des Deals für die Mitglieder für Diskussionen sorgen“, sagt Felbermayr. „Die können zur Hürde werden, da alle EU-Länder zustimmen müssen und wenn gemischte Kompetenzen berührt sind, auch die nationalen Parlamente.“
Das Schlimmste verhindert
Obwohl es nun doch noch zu einem Abkommen gekommen ist, dürfte sich der Ausstieg Großbritanniens aus dem Europäischen Binnenmarkt und der Zollunion wirtschaftlich bemerkbar machen. „Ein Teil der negativen Auswirkungen auf das deutsche BIP wird in jedem Fall eintreten, was bedeutet, dass der Brexit uns ein wenig ärmer machen wird“, sagt Ifo-Handelsexpertin Flach. „Aber der Brexit ohne eine Einigung hätte für alle Beteiligten und insbesondere für Großbritannien vor allem angesichts der Corona-Krise dramatische Folgen.“
Für die deutsche Wirtschaft sei das Schlimmste mit diesem Vertrag verhindert worden, so Felbermayr. „Die Belastung bei manchen deutschen Schlüsselprodukten – wie beiderseitig Zölle von zehn Prozent auf Autos – wäre hoch gewesen“, sagt er. Großbritannien werde durch einen Freihandelsvertrag im Vergleich zur Vollmitgliedschaft ökonomische Verluste tragen müssen. Unter dem Strich sei aber auch klar, dass beide Seiten im Vergleich zu einem harten Brexit profitieren, so Felbermayr.
Es handle sich um ein „defensives Abkommen, das lediglich versucht, für die EU die Integrität des Binnenmarktes zu sichern und für die Briten zumindest formal mehr Souveränität zu ermöglichen. Beide Hoffnungen könnten enttäuscht werden“, sagt DIW-Präsident Marcel Fratzscher. Langfristig werde es unweigerlich zu Schwierigkeiten im Handel mit Großbritannien kommen, wenn sich Regeln in beiden Volkswirtschaften unterscheiden. „Die Unsicherheit für Unternehmen wird daher hoch bleiben und dazu führen, dass der Handel zwischen Deutschland und Großbritannien weiter schrumpft, so wie dies in den vergangenen Jahren bereits der Fall war“, so Fratzscher. Dies werde auch wirtschaftlichen Schaden in Deutschland anrichten, „wenngleich diesen nur einzelne Unternehmen spüren werden, während sich andere langfristig von Großbritannien weg orientieren dürften“.
Der Austritt Großbritanniens aus dem Binnenmarkt hat jedoch auch darüber hinaus weitreichende Folgen: Der europäische Binnenmarkt schrumpfe durch den Ausstieg der Briten um 16 Prozent, so Felbermayr. „In Verhandlungen mit China und den USA kann die EU letztlich nur mit dem Zugang zu diesem Binnenmarkt punkten. Ihre Verhandlungsmacht und globalen Gestaltungsmöglichkeiten schrumpfen also“, sagt er. Darum sei es „extrem wichtig“, dass die EU mit allen Ländern in der Peripherie Partnerschaftsabkommen entwickle, die die Länder möglichst stark in den Binnenmarkt integrieren.
„Die Briten haben den Kürzeren gezogen“
Das Abkommen sei noch ausbaufähig, „weil es im Dienstleistungssektor und vor allem im Finanzbereich, in dem die Briten besonders exportstark sind, nur wenig regelt und somit neue Hemmnisse entstehen lässt“, sagt IW-Ökonom Matthes. „Das wird sicherlich auch dazu führen, dass mehr Wertschöpfung und Jobs von London aus auf den Kontinent oder nach Dublin verlagert werden.“ Es sei aber möglich, dass es hier in Zukunft noch zu Annäherungen komme.
„Die Briten haben bei diesem Abkommen ganz klar den Kürzeren gezogen“, bilanziert Matthes. Die EU habe Vorteile im Warenhandel, wo kaum Handelsbarrieren eingeführt werden. Das sei gut für die EU und die deutsche Wirtschaft. „Großbritannien hat es aber nicht geschafft, für den Sektor, in dem es eine besondere Stärke hat, gute Zugangsmöglichkeiten zu erhalten.“