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Reportage Silicon Wahnsinn

Das Silicon Valley steckt im Bewertungsrausch: Start-ups sollen plötzlich Milliarden wert sein. Platzt bald eine neue Tech-Blase?
Hohe Bewertungen für kleine Start-ups: Optimismus oder schon eine neue Internetblase?
Hohe Bewertungen für kleine Start-ups: Optimismus oder schon eine neue Internetblase?

Chris Sacca, einst Manager bei Google, sitzt auf der Bühne einer Start-up-Konferenz in San Francisco, trägt eines seiner auffälligen Cowboyhemden und sagt: „Ich kann’s kaum erwarten, bis der Crash kommt.“ Sacca ist Risikokapitalgeber, nach seinem Ausstieg bei Google wurde er einer von denen, die früh viel Geld in Technologiefirmen wie Facebook, Twitter oder Uber investierten. Er hat Unsummen damit verdient, und die Unternehmen, in die er sein Geld steckte, sind heute Milliarden wert.

Die jüngsten Entwicklungen in Kaliforniens Start-up-Szene findet er allerdings, gelinde gesagt, zum Kotzen: „Silicon Valley übertreibt maßlos“, sagt er. Und genau deshalb wartet er auf den Crash – damit „die Poser endlich abhauen“.

Denn die Summen, mit denen Kapitalgeber in junge Firmen einsteigen, werden immer größer, und mit ihnen sind die Bewertungen der Start-ups in bizarre Höhen gestiegen – nicht selten in den zweistelligen Milliardenbereich: Das Bettenportal Airbnb und der Speicherdienst Dropbox etwa wurden in den letzten Finanzierungsrunden mit 10 Mrd. Dollar bewertet. Der Sicherheits- und Finanzsoftware-Entwickler Palantir mit 15 Mrd. Der Fahrdienstvermittler Uber mit 41,2 Mrd.

Dass Investoren Zigmillionen in neue Unternehmen stecken und hoffen, bei einem Verkauf oder Börsengang reich zu werden, ist nicht neu. Auch dass sie nicht immer Ideen finanzieren, die innovativ, originell oder tragfähig sind, kennt man aus früheren Boomphasen. Neu sind aber die Summen, die derzeit in die Firmen gebuttert werden – und die Bewertungen.

Ein netter Schwellenwert

Und der Strom der Menschen, die mit dem Traum vom eigenen Unternehmen und schnellen Geld nach San Francisco kommen, reißt nicht ab. Einige sitzen auch im Publikum der Start-up-Konferenz Launch Festival, auf der Sacca spricht. Hunderte Gründer haben viel Geld bezahlt, um hier ihren Stand aufzubauen und mit Investoren wie Union Square Ventures oder Sequoia Capital ins Gespräch zu kommen. Es gibt Neues zu sehen, wie etwa das extrem widerstandsfähige Panzerglas von School Guard Glass, das unter anderem Schulen schützen soll. Aber die Me-too-Produkte dominieren: der nächste Essenslieferdienst, die nächste Foto-App, das nächste Restaurantbewertungsportal.

Start-up-Bewertungen von 10 Mrd. Dollar und mehr hätte es hier vor einigen Jahren nur in der Fantasie der großspurigsten Träumer gegeben. Google etwa war vor dem Börsengang 2004 bei einem Quartalsumsatz von 700 Mio. Dollar keine Milliarde wert. Amazon und all die anderen erfolgreichen Vertreter der ersten Dotcom-Welle auch nicht. Heute aber ist die Milliarde fast an der Tagesordnung. Ob die Unternehmen Umsatz machen, spielt bei der Bewertung eine untergeordnete Rolle. Wichtiger sind Marktanteil, Wachstumsvorhersagen oder „das Ego des Gründers“, wie der Nachrichtendienst Bloomberg schreibt. Stewart Butterfield etwa, Gründer des angesagten Organisations- und Chat-Start-ups Slack, wollte nach eigener Aussage im vergangenen Herbst die Bewertung von 1 Mrd. Dollar nur erreichen, weil das ein „netter psychologischer Schwellenwert“ für Kunden, Mitarbeiter und Journalisten sei. Er landete bei 1,12 Mrd.

Der Bewertungswahn beherrscht im Silicon Valley die Schlagzeilen und die Gespräche. „Bewertungen sind neben den exorbitanten Mieten das Thema Nummer eins, wenn man Kollegen oder Freunde trifft“, klagt ein genervter Start-up-CEO. Er möchte beim Klagen allerdings gern anonym bleiben, weil er und sein Mitgründer auch gerade wieder Kapital einsammeln.

Riesige Geldquellen tun sich auf

Es gibt mehrere Gründe, warum die Bewertungen in den letzten Jahren so durch die Decke geschossen sind. Start-ups gehen später an die Börse und organisieren davor mehr private Finanzierungsrunden, in denen sie ihre Bewertung in die Höhe treiben können. Technologien wie Cloud-Computing, Smartphones und billige Sensoren wirbeln ganze Branchen durcheinander. Sie machen Gründer kreativ und Investoren hoffnungsvoll. Dazu fließen Milliarden um den Globus. Klassische Start-up-Geldgeber wie Wagniskapitalfirmen und Investmentbanken, neuere Interessenten wie Hedge- und Anlagefonds, ja sogar Privatpersonen sind angesichts niedriger Zinssätze und verhältnismäßig magerer Renditen im S&P 500 auf Anteile an Start-ups erpicht. Sie, so die Hoffnung, besitzen größeres Potenzial. Außerdem haben es die USA 2012 mit einem neuen Gesetz kleinen Unternehmen leichter gemacht, sich lange vor einem Börsengang mit privatem Kapital vollzupumpen. Für junge Unternehmen haben sich so riesige Geldquellen aufgetan.

Investoren werden zudem von der Angst getrieben, das nächste große Ding zu verpassen. FOMO oder Fear of missing out heißt das hier. Keiner will sich das nächste Facebook entgehen lassen. Das soziale Netzwerk ging 2012 mit einer Bewertung von 104 Mrd. Dollar an die Börse – noch nie war eine Firma beim Sprung aufs US-Parkett so viel wert. Heute liegt die Marktkapitalisierung bei fast 230 Mrd. „Es ist der Herdentrieb“, sagt Alex Lykken von Pitchbook, einer auf die Analyse von Private Equity und Risikokapital spezialisierten Research-Firma. „Ein oder zwei Start-up-Hits können einen ganzen Fonds rausreißen. Also müssen die Wagniskapitalgeber mitmachen – und alle anderen hoffen auch auf den großen Wurf.“

Im vergangenen Jahr pumpten allein Wagniskapitalfirmen 48,3 Mrd. Dollar in amerikanische Start-ups, 61 Prozent mehr als 2013. Die Zahl der Deals aber legte dabei nur um lediglich vier Prozent zu – auf 4 356.

Selbst Fondsgesellschaften wie Blackrock oder Fidelity Investments, die traditionell eigentlich erst beim Börsengang in Start-ups investieren, wollen jetzt schon lange davor dabei sein. Die Vermögensverwalter kaufen für Milliarden Anteile an nicht börsennotierten Unternehmen wie Airbnb oder Uber. Sogar Pensionsfonds sind mittlerweile mit von der Partie. Insgesamt 4,7 Mrd. Dollar haben Fondsgesellschaften im vergangenen Jahr investiert.

Einige Firmen verdienen fast kein Geld

Die damit geförderten Milliarden-Start-ups tragen mittlerweile sogar einen eigenen Namen. Einen, der zu den fabelhaften Bewertungen passt: Unicorns. Erfunden hat ihn Aileen Lee, Gründerin des Investmentfonds Cowboy Ventures. Als Einhörner bezeichnet sie amerikanische Software-Firmen, die nach 2003 an den Start gingen und von Börsen oder privaten Investoren mit mehr als 1 Mrd. Dollar bewertet werden. Ihre Bezeichnung hat sich durchgesetzt. Angesichts der steigenden Zahl nicht börsennotierter Firmen, die sogar mehr als 10 Mrd. Dollar wert sind, musste allerdings auch schon ein neuer Name her: Decacorns – Zehnhörner.

Zuletzt sind zwei Start-ups ohne nennenswerten Umsatz in den Decacorn-Club aufgestiegen: Snapchat, ein Dienst für das schnelle Versenden von Bildern und Nachrichten, bekam vor ein paar Wochen 200 Mio. Dollar vom chinesischen E­Commerce-Giganten Alibaba Group und ist damit hochgerechnet 15 Mrd. wert. Und die Online-Pinnwand Pinterest sammelte im März 367 Mio. Dollar ein. Die Bewertung liegt nun bei 11 Mrd. Dollar, doppelt so viel wie noch vor knapp einem Jahr. Beide Firmen haben ein paar Dutzend Angestellte, verdienen fast kein Geld – und gehören zu den wertvollsten nicht börsennotierten Unternehmen der Welt.

Sind solche Investitionen nicht vielleicht doch etwas riskant?

80 bis 90 Prozent aller Start-ups gehen wenige Jahre nach der Gründung wieder ein. Für Investoren ist es schwer, sich ein vollständiges Bild der Unternehmen zu verschaffen: Zu den winzigen Umsätzen kommen nur selten Gewinne, und als privat gehaltene Firmen müssen sie keine Geschäftsberichte an die Börsenaufsicht liefern. Historische Daten für die Ausarbeitung von Vorhersagen gibt es naturgemäß auch kaum.

Ein sicheres Investment sieht anders aus. Und selbst wenn die Start-ups ihre ersten Jahre ohne Pleite überstehen, droht Ungemach. „Meine Sorge ist, dass die Bewertungen beim Börsengang oder Verkauf nicht mit den Bewertungen in privaten Finanzierungsrunden mithalten können“, sagt Raffi Amit, Professor an der Wharton School. „Man muss sich schon fragen, welchen Gewinn man etwa bei einer Bewertung von 41 Mrd. Dollar für Uber erzielen muss, um so ein Investment zu rechtfertigen.“

„Das wird für viele böse enden“

Die wachsende Größe der Einhorn-Herde sehen selbst einige Geldgeber im Silicon Valley kritisch. Bill Gurley etwa, Partner beim Wagniskapitalgeber Benchmark, warnt schon länger vor den Folgen der Gier – dabei hat seine Firma selbst einige Zehn- und Einhörner im Portfolio: Uber, Snapchat, den Co-Working-Space-Vermieter WeWork und das Cloud-Unternehmen Jasper Technologies.

Mitte Februar sitzt Gurley bei der Goldman Sachs Technology & Internet Conference in San Francisco auf einer Bühne und wiederholt, was er seit Monaten predigt: Investoren wie Start-ups gehen zu hohe Risiken ein. Weil die Firmen so leicht an Geld kommen, verbrennen sie so viel davon wie seit 1999 nicht mehr. „Das wird für viele böse enden.“ Dem Investorenpublikum im Ballsaal des Palace Hotel rät er: „Hört endlich auf, so viel Geld in privat gehaltene Unternehmen zu stopfen.“ Unheimlich sind dem früheren Compaq- und AMD-Ingenieur vor allem Lieferdienste und andere Start-ups mit niedrigen Margen, die ihre Marktposition mit Gutscheinen und Hype subventionieren und nur mit größten Anstrengungen profitabel werden können.

Als Gurley von der Bühne tritt, drängen sich zahlreiche Investoren um den schlaksigen Mann und bombardieren ihn mit Fragen. Die wenigsten aber, sagt Gurley danach dem „Wall Street Journal“, wollten seinem Rat folgen. Größer sei die Angst, nicht dabei zu sein, wenn der nächste Geldregen auf die Start-ups und ihre Geldgeber niederprasselt.

In mancher Hinsicht erinnert der Rausch an die Boomphase der 90er-Jahre. Die Frage, ob 15 Jahre nach dem Kollaps der Internetblase das nächste Debakel ansteht, treibt das Technologietal am Pazifik denn auch um. Viele erfahrene Silicon-Valley-Insider wie Russell Hancock wähnen sich jedoch nicht in einer Blase. „Das Jahr 2000 war anders“, sagt der Präsident der Organisation Joint Venture Silicon Valley. Die Unternehmen seien heute solider als damals, die Investitionen würden stufenweise erhöht, Beschäftigungszahlen und die Wirtschaft in der Region wüchsen gleichermaßen, und außerdem sei das Portfolio der Start-ups breiter.

Grill mit iPad-Anschluss

Auch Aaron Gershenberg von der Silicon Valley Bank ist optimistisch. Solange kein makroökonomisches oder geopolitisches Ereignis dazwischengrätsche, werde die „Nachfrage nach Start-ups mit Risikokapital im Rücken weiter wachsen“, sagt er. „Es ist sehr viel Kapital vorhanden, dass unbedingt in die Innovationswirtschaft investiert werden will.“

Vielen ist dennoch klar, dass die nächste Korrektur in der stark zyklischen Technologiebranche kommen wird – und sie sagen es auch öffentlich. Beobachter wie Alex Lykken von Pitchbook rechnen vor allem mit sogenannten flat rounds oder down rounds, bei denen Start-ups stagnierende oder geringere Bewertungen gegenüber vorhergehenden Runden in Kauf werden nehmen müssen. Das wirkt sich nicht nur negativ auf die Moral der Mitarbeiter aus, sondern auch auf den Markt.

Auch der frühere Wall-Street-Analyst Henry Blodget versucht die Euphorie zu bremsen: „Nur weil die Zeichen nicht auf eine Blase hindeuten, heißt das noch lange nicht, dass wir dem Tag der Abrechnung entkommen“, schreibt er in seinem Nachrichtenportal „Business Insider“.

Und wenn selbst der Chef des wichtigsten Start-up-Inkubators im Silicon Valley zu warnen beginnt, ist klar, dass etwas aus dem Ruder laufen könnte: „Es ist nicht unbedingt positiv, wenn Unternehmen tonnenweise Geld mit sehr hohen Bewertungen einsammeln können“, sagt Sam Altman von Y Combinator (YC). „Die Erfolgsbilanz von Firmen, die in ihrer ersten Finanzierungsrunde enorme Summen zu enormen Bewertungen bekommen, ist nicht gut, die Kultur wird versaut.“

Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass Altman das ausgerechnet auf dem jüngsten Investorentreff seiner eigenen Firma sagte. Hunderte Wagniskapitalgeber belagerten Ende März das Computer History Museum in Mountain View, wo sie auf dem Demo Day von YC darum rangelten, wer wie viel in die nächsten Hoffnungsträger investieren kann. Hyperventilierende Gründer von mehr als 100 YC-Start-ups präsentierten dort ihre Ideen – von auf 3-D-Druckern hergestellten Raketentriebwerken bis zum mit dem iPad vernetzten Grill. Zu den YC-Alumni gehören Firmen wie Airbnb und Dropbox.

Aber obwohl er mit solchen Aussagen den Bubble-Talk befeuert, hat Altman die Nase voll von den Schwarzmalern. „Ich bin ziemlich paranoid, was Blasen angeht, aber die Dinge haben meiner Meinung nach immer noch einen Bezug zur Vernunft“, schrieb der YC-Präsident kurz nach dem Demo Day in seinem Blog. „Und Investoren, die der Meinung sind, dass Firmen überbewertet sind, steht es immer frei, es bleiben lassen.“

Der Text ist zuerst in Capital 05/2015 erschienen.

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