Wieder ein Appell, wieder leere, hohle, aber von sich selbst gerührte Worte, die in den vergangenen Wochen in der einen oder anderen Form in Deutschland immer wieder durchgerauscht sind: Am 1. April erschien in der Berliner Zeitung ein Aufruf zum „Frieden für die Ukraine“, der sich selbst als „Friedensappell aus der Mitte der Gesellschaft“ bezeichnet. Darin die Forderung, angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine doch bitte den „Weg zu Verhandlungen“ zu finden und „die Eskalation des Krieges zu stoppen“.
Aufrufe wie dieser verlaufen immer nach dem gleichen Muster: Zunächst erfolgt pflichtschuldig der Verweis auf den „russischen Angriffskrieg“, um dann aber schnell auf das eigentliche Anliegen zu kommen: Stets wird mehr oder weniger deutlich behauptet, Deutschland, die NATO oder „der Westen“ trügen eine wie auch immer geartete Verantwortung für das Morden in der Ukraine und verlängerten das Leid durch die eigenen Waffenlieferungen. „Statt der Dominanz des Militärs brauchen wir die Sprache der Diplomatie und des Friedens“, heißt es in dem Appell.
Und natürlich: Wer wollte das nicht? An wen aber richtet sich diese Forderung? Wer in der Bundesregierung würde nicht jede Chance auf Frieden sofort ergreifen, wenn Russland daran auch nur einen Funken Interesse zeigen würde? Wo bleibt in diesem Aufruf also der eigentlich Schuldige in diesem Krieg – Russland?
Leiden die Unterzeichner unter Realitätsverlust?
Der aktuelle Text unterscheidet sich von den bisherigen vor allem dadurch, dass ihn nicht in erster Linie die üblichen Verdächtigen wie die Theologin Margot Käßmann oder der Politikwissenschaftler Wolfgang Merkel unterschrieben haben, sondern vor allem eine ganze Reihe von Sozialdemokraten und Gewerkschaftsfunktionären. Es finden sich die Ex-Bundesminister Hans Eichel und Herta Däubler-Gmelin unter den Unterzeichnern, aber auch der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse. Warum das interessant ist – dazu später. Zunächst einmal zu den Forderungen selbst:
Der Aufruf vom 1. April will den Bundeskanzler „ermutigen“, gemeinsam „mit Frankreich insbesondere Brasilien, China, Indien und Indonesien für eine Vermittlung zu gewinnen, um schnell einen Waffenstillstand zu erreichen“. Haben Menschen, die so etwas schreiben oder unterzeichnen, eigentlich mitbekommen, was in den vergangenen gut 13 Monaten geschehen ist? Haben sie die verzweifelten Besuche europäischer Politiker in Moskau vor dem danach folgenden Angriff verfolgt, die wiederkehrenden demütigenden Telefonate von Olaf Scholz und Emmanuel Macron mit dem russischen Staatschef? Und die vor Hass, Drohungen und blanker Aggression triefenden Ausbrüche des russischen Ex-Präsidenten Dmitri Medwedew, der ja vielen der Unterzeichner einst als die liberale Hoffnung in Moskau galt?
Und wenn sie das alles mitbekommen haben, wie können sie dann ernsthaft glauben, dass ein deutscher Vermittlungsversuch mit China irgendetwas anderes zur Folge hätte, als dass sich Wladimir Putin in seiner Attacke auf das westliche Nachbarland ermutigt sähe? China hat, auch das könnte man eigentlich wissen, diesen Krieg zunächst abgesegnet, danach nie ernsthaft kritisiert und auch keinen einzigen glaubwürdigen Vorschlag zu seiner Beendigung gemacht. Die Überzeugung, Scholz könne Präsident Xi zu einem Meinungswandel bewegen, ähnelt dem Glauben daran, mit kleinen weißen Kügelchen ließen sich Krankheiten heilen.
Dass die Liste unter dem Aufruf mit ehemaligen Mitgliedern der Schröder-Regierung und ihres Umfelds gespickt ist, hat eine ganz besondere Note. Recherchen der vergangenen Monate und Jahre – wie die der FAZ-Journalisten Reinhard Bingener und Markus Wehner – haben ausführlich dargelegt, wie politische Netzwerke in Deutschland über lange Zeiträume hinweg enge Bande mit dem russischen Regime geknüpft haben. Sozialdemokraten waren dabei besonders eifrig, doch auch in der CDU und der CSU fanden sich Freunde der Moskau-Connection – von der Linken und der AfD soll hier gar nicht erst die Rede sein.
Putin muss man bekämpfen
Die Motive waren dabei vielfältig, die einen trieb die Gier, andere ein latenter Antiamerikanismus und manche sicher auch der bodenlos naive Glaube, man könne mit Putins Russland an einem gemeinsamen, friedlichen Europa bauen. Allen gemein aber ist, dass sich ihr Ansatz mit dem 24. Februar 2022 erledigt hatte. Mit einem Autokraten, der ohne jeden Grund ein Nachbarland überfällt, Schulen und Kindergärten bombardiert und seine vergewaltigenden Soldaten für ihre Gräueltaten belobigt, kann man weder Geschäfte machen noch Rechtsstaatsdialoge führen. Den muss man, so furchtbar das ist, bekämpfen. Weil er sonst keine Grenzen akzeptieren wird, nicht die der Ukraine, aber auch nicht die von Polen und auch keine, die noch weiter westlich liegen.
Wenn nun also führende Sozialdemokraten der Schröder-Zeit sich unter wolkigen Friedensaufrufen versammeln, dann weckt das den Verdacht, dass es hier darum geht zu verschleiern und abzulenken. Von den eigenen Fehleinschätzungen und Abwegen, die keine zweitrangigen politischen Irrtümer waren, sondern brutale, den Kern betreffende, folgenreiche politische Fehler. Es gäbe eine Menge aufzuarbeiten für diese Politiker, ob es der Skandal über die Nord Stream-Stiftung in Mecklenburg-Vorpommern ist oder die Aktivitäten von Gerhard Schröder in den Aufsichtsräten russischer Energiekonzerne. Aber leichter ist es natürlich, mit bebenden Lippen nach Frieden zu rufen und so zu tun als vertrete man damit eine unterdrückte Meinung.
Vordergründig verzichtet der aktuelle Aufruf auf die gängigen Schuldzuweisungen, er wird kaum konkret, was ihn vermutlich unterschriftstauglicher gemacht hat. Wes Geistes Kind allerdings hinter dem Text steht, wird klar, wenn man einen näheren Blick auf Reiner Braun wirft, einen der Mit-Initiatoren und Vertreter des „Internationalen Friedensbüros“. Braun veröffentlichte im Januar 2023 einen Artikel auf den „Nachdenkseiten“, einem Portal, das sich durch oft in Verschwörungstheorien kippendes Geraune einen Namen gemacht hat. In dem Beitrag glaubt Braun, die wahren Gründe für den Angriff Russlands ausgemacht zu haben: die „jahrzehntelange westliche Provokation, genannt NATO-Osterweiterung“, einen „Schießkrieg gegen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk“ und eine „reaktionäre Regierung der Ukraine“.
Es sind die altbekannten Motive der russischen Propaganda, die hier wiedergegeben werden. Die freie, von zahlreichen internationalen Verträgen gedeckte Entscheidung von Staaten wie Polen oder Estland, der NATO beizutreten, gilt als „westliche Provokation“. Ohne zu fragen, warum diese Staaten wohl in die Verteidigungsallianz strebten und heute heilfroh sind, dies getan zu haben. Die Besetzung von Teilen des Donbass durch Russland (aka „prorussische Separatisten“) wird als ukrainische Aggression umgedeutet. Und die Regierung des Landes als „reaktionär“ – was auch immer das im Vergleich zum imperialistischen Kreml bedeuten soll.
Das alte Lied der Schuldumkehr
Kurios daran ist, dass nicht einmal die russische Führung selbst noch diese Begründungen für den Krieg bemüht. In Moskau selbst hat man schon lange voll auf Vernichtungsmodus geschaltet und sich von sämtlichen Pseudo-Motiven für den Angriff auf die Ukraine gelangweilt verabschiedet. Auch das scheinen Braun und seine Mitunterzeichner nicht mitbekommen zu haben.
Der zunächst harmlos wirkende Aufruf vom 1. April zeigt also beim näheren Hinsehen schnell seinen wahren Charakter. Er mag nicht so offen Putin-apologetisch wie die Initiativen von Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer sein, er hält sich mit Theorien über Hintergründe des Krieges zurück und verharrt in einem verschwiemelten Friedens-Gebarme. Aber unterschwellig läuft das alte Lied der Schuldumkehr, des Antiamerikanismus und der Relativierung der Aggression.
Appelle wie dieser stoppen diesen Krieg nicht, sie bremsen ihn nicht, sie verhindern auch keine zukünftigen Kriege. Im Gegenteil: Einem Aggressor wie Wladimir Putin zeigen sie, dass die Saat seiner Propaganda immer wieder aufgeht.