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Exklusiv Marsalek nutzte noch mehr Reisepässe als bekannt

Behörden weltweit suchen nach dem früheren Wirecard-Manager Jan Marsalek - auch Zielfahnder des Polizeipräsidiums München
Behörden weltweit suchen nach dem früheren Wirecard-Manager Jan Marsalek - auch Zielfahnder des Polizeipräsidiums München
© dpa
Der frühere Wirecard-Vorstand Jan Marsalek gilt als einer der Drahtzieher des Milliardenbetrugs – und als möglicher Agent ausländischer Geheimdienste. Offenbar verfügte er über acht österreichische Pässe und einen Diplomatenpass aus Usbekistan

Von Interpol bis BKA – weltweit suchen Polizeibehörden nach Jan Marsalek. Der 40 Jahre alte Österreicher war einer der Chefs des heute bankrotten Finanzdienstleisters Wirecard und gilt als möglicher Kopf einer Bande, die dort viele Millionen Euro abgezweigt haben soll. Seit dem 19. Juni ist er abgetaucht. Er wird irgendwo in Russland vermutet.

Paradox, aber wahr: Der Mann, der heute als mutmaßlicher Straftäter gesucht wird, unterhielt vor seiner Flucht enge Beziehungen zu verschiedenen Sicherheitsbehörden. Jetzt gibt es Neuigkeiten zu den vielen Reisepässen und möglichen Geheimdienstkontakten des Ex-Managers. Ein Indiz dafür: Laut vertraulichen Unterlagen der deutschen Sicherheitsbehörden, die der „Stern“ und Capital auswerten konnten, war Marsalek im Besitz von sage und schreibe acht verschiedenen österreichischen Reisepässen – neben einem Personalausweis der Alpenrepublik. Das schrieb das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) am 2. September 2020 dem Generalbundesanwalt in Karlsruhe. Bisher war in Medienberichten von sechs Pässen aus Österreich die Rede.

Das in Köln ansässige Bundesamt berief sich bei seinen Informationen auf „die Übermittlung eines ausländischen Partnerdienstes“, der Registriernummern der „acht mutmaßlichen von der Republik Österreich ausgestellten Reisepässen“ geliefert habe. Darüber hinaus seien dem BfV von dem Partnerdienst die Registriernummer „eines Passes des Inselstaates Grenada“ in der Karibik mitgeteilt worden. Eine weitere Marsalek zugeordnete Nummer eines Diplomatenpasses stufte das Bundesamt als mögliches Ausweisdokument des Regimes in Usbekistan ein. Das Land wird von Staatspräsident Shavkat Mirziyoyev autoritär regiert.

Dass Marsalek Beziehungen nach Usbekistan unterhält, zeigen auch Flugdaten. Ausweislich von Angaben, die der Verfassungsschutz ausgewertet hat, war Marsalek am 27. Februar 2018 vom türkischen Istanbul in die usbekische Hauptstadt Taschkent geflogen und zwei Tage später – am 1. März 2018 – zurück nach Istanbul. Bei seinen zahlreichen Besuchen in Russland war Marsalek laut der Auswertung der Flugdaten durch das BfV offensichtlich „mit sieben verschiedenen Reisepässen und einem Diplomatenpass“ eingereist.

Der Generalbundesanwalt ging den Unterlagen zufolge im Sommer 2020 dem Verdacht nach, dass Marsalek „eine mögliche nachrichtendienstliche Tätigkeit“ für einen russischen Geheimdienst betrieben habe. Die Quelle für diesen Verdacht und für eine Reihe von Dateien offenbar von russischen Behörden war ein „G.“ genannter Zeuge, der bereits in dem Verfahren zu dem sogenannten Tiergarten-Mord ausgesagt hatte. In ihm geht es um einen möglichen Auftragsmord des russischen Staats an einem Georgier im August 2019 im Kleinen Tiergarten in Berlin.

BND hat keine „Eigenerkenntnisse“

Einiges deutet darauf hin, dass es sich bei G. um einen Journalisten handelt, der sowohl über den Täter im Tiergarten-Fall wie auch über die mutmaßliche Flucht von Marsalek nach Minsk in Belarus im Juni 2020 recherchiert hatte. Eine Anfrage an ihn blieb bisher unbeantwortet. Er hatte bereits in einem Artikel im Juli 2020 den Verdacht aufgeworfen, dass Marsalek für einen russischen Geheimdienst gearbeitet haben könnte.

Als Indiz dafür dienten offenbar von dem russischen Inlandsdienst FSB gesammelte Einreisedaten der dortigen Grenztruppen. In den Daten wurden nämlich einerseits bis September 2017 relativ häufige Russland-Besuche des Österreichers registriert. Für den 15. September 2017 hatten die Grenztruppen für den frühen Morgen hingegen zunächst eine Ausreise als „verweigert“ gespeichert. Dann durfte Marsalek am späten Nachmittag desselben Tages doch das Land mit einer anderen Maschine verlassen. In der Zeit danach wurden in dieser Datenbank keine Einreisen von Marsalek mehr registriert.

Daher konnte man darüber spekulieren, ob ein russischer Geheimdienst bei dieser Gelegenheit im September 2017 Marsalek als Zuträger angeworben hatte. „Insgesamt scheint sich das Reiseverhalten des Marsalek in Bezug auf Russland nach der verzögerten Ausreise im Jahr 2017 verändert zu haben“, heißt es auch in einer Auswertung der Reisedaten, die der Bundesnachrichtendienst (BND) am 11. September 2020 an den Generalbundesanwalt übermittelte: „Dies spricht dafür, dass Marsalek entweder danach tatsächlich keine Reisen mehr nach Russland unternommen hat, oder dass die Reisen ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in der Datenbank der Grenztruppen dokumentiert wurden.“

Ähnlich wie der Verfassungsschutz konnte der BND dem Generalbundesanwalt aber keine eigenen Erkenntnisse über eine mögliche Agententätigkeit des Wirecard-Managers bieten. Eine „Tätigkeit Marsaleks für russische Nachrichtendienste“ könne „nicht ausgeschlossen werden, diese kann jedoch mangels nachrichtendienstlicher Eigenerkenntnisse auch nicht bestätigt werden“, hieß es in dem Schreiben des BND, das in Kopie auch an die zuständige Abteilung des Kanzleramts in Berlin ging.

Der Verfassungsschutz verwies gegenüber der Bundesanwaltschaft darauf, dass russische Geheimdienste Marsaleks Aktivitäten „zumindest akribisch beobachtet“ haben dürften: „Die vielen weiteren Reisen und dargestellten Aktivitäten des Marsalek in Libyen und Syrien sind nicht denkbar, ohne dass der militärische Nachrichtendienst GRU dies registriert.“ Grund: die militärischen Interessen Russlands in diesen beiden Ländern.

Die Bundesanwaltschaft wollte sich jetzt auf Anfrage nicht zu dem Vorgang äußern. Offenbar ist dort aber mangels konkreter Verdachtsmomente kein Ermittlungsverfahren anhängig, auch nicht betreffend einen von tagesschau.de vor einigen Monaten vermeldeten Verdacht einer Tätigkeit Marsaleks für den österreichischen Inlandsgeheimdienst. Auf Anfrage von „Stern“ und Capital dementierte das österreichische Innenministerium jetzt erneut eine solche Zuarbeit von Marsalek für das dortige Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT). „Jan Marsalek war keine Vertrauensperson oder sogenannter ,V-Mann` für das BVT“, teilte ein Sprecher mit.

Auf die Frage nach den vielen österreichischen Reisepässen des heute polizeilich gesuchten Managers hatte der Wiener Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) bereits im September in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der Neos unter Berufung auf den Datenschutz keine Details mitgeteilt. „Im Passgesetz ist grundsätzlich vorgesehen, dass eine Person gleichzeitig über mehrere Reisedokumente verfügen darf“, hatte er erklärt.

Neben den zahlreichen Pässen war in den vergangenen Monaten auch bekannt geworden, dass Marsalek gute Kontakte in die österreichische Sicherheitsszene unterhielt – ganz besonders zu einem früheren hochrangigen Beamten des Inlandsgeheimdienstes BVT, der Marsalek als einer der letzten traf, bevor er sich aus Deutschland absetzte. Als Berater des Wiener BVT arbeitete zeitweise auch der frühere Geheimdienstbeauftragte im Berliner Kanzleramt, Klaus-Dieter Fritsche, der Anfang 2019 von dem damaligen FPÖ-Innenminister Herbert Kickl engagiert wurde, um die Reform der Behörde zu unterstützen. Darüber hinaus war Sicherheitsexperte Fritsche im September 2019 auch behilflich, ein Treffen von Marsaleks Wirecard-Vorstandskollege Alexander von Knoop mit dem Wirtschaftsberater von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einzufädeln.

Glaubt man einem Schreiben des BND an das Kanzleramt vom 30. September 2020, dann war Marsalek auch kein Zuträger des deutschen Auslandsdienstes: „Vertreter des Bundesnachrichtendiensts standen nach bisherigem Sachstand nicht mit Marsalek in Kontakt“, schrieb der BND als interne Zuarbeit zur Beantwortung einer Anfrage der FDP-Fraktion im Bundestag. Auch mit dem Unternehmen Wirecard insgesamt habe es nur begrenzte Berührungspunkte gegeben. Der BND habe lediglich „im geringen Umfang beispielsweise in Ladengeschäften erhältliche Prepaid-Kreditkarten von Wirecard anonym genutzt“. Es gehöre zur Praxis des BND, dass „operativ tätige Mitarbeiter unter Arbeits-Identitäten erforderlichenfalls Kreditkarten verschiedener Anbieter“ erwerben.

Marsaleks Anwalt wollte sich auf Anfrage nicht zu den Vorgängen äußern. „Wir möchten derzeit keine Erklärungen abgeben“, schrieb er.

Opposition kritisiert Sicherheitsbehörden

Für die Oppositionsfraktionen im Bundestag werfen die neuen Erkenntnisse zu Jan Marsaleks Aktivitäten und Reisedokumenten Fragen auf. Für den FDP-Abgeordneten Florian Toncar zeigt der Fall, dass im Wirecard-Skandal nicht nur die Finanzaufsicht Bafin, das Finanzministerium und das Kanzleramt Fragen zu beantworten hätten, sondern auch die deutschen Sicherheitsbehörden: „Wenn es zutrifft, dass Jan Marsalek mit mehreren Pässen unter anderem in Bürgerkriegsgebiete reiste, dabei offensichtlich beste Kontakte nach Russland und zum österreichischen Geheimdienst genoss und gleichzeitig einen Dax-Konzern führte, ohne dass der BND davon etwas mitbekommen hat, dann haben wir offensichtlich ein großes Sicherheitsproblem“, sagte der FDP-Finanzexperte.

Die Grünen-Abgeordnete Lisa Paus verwies auf „Indizien, die zeigen, dass andere internationale Geheimdienste über Jan Marsalek einen direkten Draht zu Wirecard hatten, das zeigt auch die Anzahl der Pässe“. Die Behauptung der deutschen Geheimdienste, sie hätten keine Erkenntnisse zu Jan Marsalek, sei „somit entweder unglaubwürdig oder erschreckend“. Fabio De Masi, der für die Linken im Wirecard-Untersuchungsausschuss des Bundestages sitzt, findet es „seltsam, dass Marsalek von Sicherheitsbehörden erst eine ganze Schubkarre mit Pässen bekommt und nun wird er von Interpol gesucht“. Warum durfte er „aus Deutschland unbehelligt ausreisen“?, fragte De Masi. „Und warum fragt die Bundesregierung nicht in Österreich nach was die Schlapphüte und mutmaßlichen Fluchthelfer von Marsalek bei uns so treiben?“

Bereits im November hatte der Wirecard-Untersuchungsausschuss einen Sonderermittler zu den Geheimdienst-Aspekten des Skandals eingesetzt, den früheren Grünen-Bundestagsabgeordneten und ehemaligen Berliner Justizsenator Wolfgang Wieland. Wie es heißt, hat er bereits seine Arbeit aufgenommen.

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