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Kolumne Machtpoker auf nordkoreanisch

Eine Interpretation der Säuberungswelle im abgeschottenen Nordkorea ist schwierig. Einiges deutet jedoch daraufhin, dass die Tante von Diktatur Kim Jong-un die Strippen zieht. Von Yuriko Koike
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Yuriko Koike war japanische Verteidigungsministerin, nationale Sicherheitsberaterin und Vorsitzende der Liberaldemokratischen Partei Japans. Derzeit ist sie Abgeordnete des japanischen Parlaments.

Während des Kalten Krieges bezog sich der Begriff „Kremlologie“ auf den Versuch zu verstehen, was in den höchsten Befehlsrängen der Sowjetunion vor sich ging – oder auch hinter dem gesamten Eisernen Vorhang. „Kremlologen“ beobachteten (auf jede mögliche Art), wer in der innersten sowjetischen Führungsriege oben oder unten war. Große Bedeutung wurde beigemessen, wer ein offizielles Dokument unterzeichnet hatte oder wer bei Militärparaden über dem Grab Lenins auf dem Roten Platz stand.

Aber all das war ein Kinderspiel gegenüber den Versuchen, das Regime in Nordkorea zu entschlüsseln, wo die Wahrheit noch viel stärker verschleiert ist.

Betrachten wir die Vorfälle vom 17. Dezember. Choe Ryong-hae, Vizevorsitzender der Zentralen Militärkommission der Koreanischen Arbeiterpartei, war auf geheimnissvolle Weise beim zweiten Todestag des „geliebten Führers“ Kim Jong-il anwesend – der ersten großen Zeremonie nach dem Sturz und der Hinrichtung Jang Song-thaeks, des ehemaligen Vizevorsitzenden der Nationalen Verteidigungskommission. Choes Vortrag mit seinen Drohungen gegen die Vereinigten Staaten und Südkorea schien den Weg für seinen politischen Aufstieg zu bereiten.

Erhalt der Kim-Dynastie steht an oberster Stelle

Jang Song-thaek war eine Art Regent Kim Jong-uns, dem jungen Nachfolger der Kim-Familiendynastie. Er wurde als Nummer Zwei des Regimes angesehen. Aber er verdankte diese Position seiner Frau, Kim Kyong-hui, der einzigen Schwester Kim Jong-ils, des verstorbenen Vaters Kim Jong-uns.

Seine Stellung konnte Jang, trotz der Trennung von seiner Frau, durch sein Taktgefühl und seinen Nutzen als Gesprächspartner Chinas behaupten. Aber in Nordkorea steht Blutsverwandtschaft an oberster Stelle: Alles, einschließlich der Ideologie und des nationalen Interesses, dient der Fortführung der Kim-Dynastie. Das „Erbe“ des „Großen Führers“ Kim Il-sung und seines Sohns, des „Geliebten Führers“ Kim Jong-il, bestimmt alle großen Entscheidungen.

Ich glaube seit einiger Zeit, dass seit dem Tod Kim Jong-ils die wahre Machthaberin niemand anderes als seine Schwester Kim Kyong-hui ist. In der nordkoreanischen Kultur ist es nicht üblich, dass Frauen Machtpositionen einnehmen, aber es scheint, dass sie das einzige Familienmitglied war, dem Kim Jong-il vertrauen konnte. Als er durch Krankheit außer Gefecht gesetzt war, war sie es, die den Ton angab.

Der Grund, warum sie sogar nach dem Sturz und der Hinrichtung ihres Mannes (und der Verhaftung seiner restlichen Familie) ihren politischen Rang behalten konnte, war ihre Blutsverbindung zur Kim-Dynastie. Es gab sogar Andeutungen, dass die Entscheidung, ihren Mann zu stürzen, von ihr kam. Obwohl wir nicht wissen können, ob sie auch seinen Tod verursacht hat, überrascht es dennoch nicht, dass sie glaubte, angesichts ihrer eigenen schwindenden Gesundheit die Familiendynastie nicht in den Händen ihres Mannes lassen zu können.

Beunruhigende Signale aus Peking

Der vielleicht erschreckendste Aspekt von Jangs Hinrichtung ist, dass sie Teil eines „Fressanfalls“ war, der einigen hohen Beamten und Generälen das Leben kostete. Und das Blutvergießen war von extrem persönlicher Natur: Im August befahl Kim Jong-un Berichten zufolge die Erschießung einer Ex-Freundin und anderer Mitglieder ihrer Musikgruppe. Angeblich waren die Familien der Opfer bei den Hinrichtungen anwesend.

Anderswo in der kommunistischen Welt haben die Regimes solchen mörderischen Säuberungen schon lang abgeschworen, zuerst in der Sowjetunion durch Chruschtschow nach seiner Denunzierung Stalins, und dann in China durch Deng Xiaoping nach seiner Rehabilitation und Rückkehr an die Macht in den späten 1970ern. Durch diese „Reform“ wurden diese Regimes zwar nicht wohltätiger oder effizienter, aber etwas stabiler und berechenbarer in ihrem Verhalten. Nordkorea, schon immer der unberechenbarste der kommunistischen Staaten, bleibt weiterhin in einer Welt des Zwielichts.

Beunruhigender ist die Frage, ob China unter Präsident Xi Jinping einen ähnlichen Weg geht. Seit Dengs Herrschaft bestand immer Einigkeit darüber, dass Mitglieder des Politbüros der chinesischen Kommunistischen Partei unantastbar sind - auch noch im Ruhestand. Aber Xi hat unter dem Vorwand seines Kampfes gegen die Korruption das pensionierte Politbüro-Mitglied Zhou Yongkang angegriffen. Dieser steht nun unter Hausarrest und sieht sich mit schweren Anklagen konfrontiert – und reißerischen Anschuldigungen, er habe nicht nur seine Frau ermordet, sondern auch versucht, Xi zu töten.

Nordkorea entfremdet sich von China

Der chinesische Schwerpunkt auf einer Regierung durch Konsens seit Deng hat das Land vielleicht nicht demokratischer gemacht, aber zumindest die Wiederkehr eines neuen Persönlichkeitskults à la Mao Zedong verhindert. Die Frage heute ist, ob Xis Missachtung dieser internen Parteikonvention ein weiterer Schritt zur Rückkehr zu einer– völlig willkürlichen – Einpersonenherrschaft in China ist.

In Nordkorea war Willkürherrschaft natürlich immer die Norm – wie bizarr und ungeeignet sie auch immer war. Und nun geht nach der Hinrichtung Jangs die Verantwortung für das wirtschaftliche Versagen Nordkoreas an Choe über. Alle mit ihm verwandten Beamten und Menschen leben nun im Schatten des Henkers, da er, sollte die Dynastie einen Sündenbock für ihre zunehmenden Probleme suchen, sicherlich die Schuld bekommt.

Und Jangs Hinrichtung könnte die Probleme verschärfen. Weil China einen nützlichen Kontaktweg mit dem Kim-Regime verloren hat, könnte Nordkorea die einzige Lebensader abhanden gekommen sein. Solange die internationalen Sanktionen anhalten, kann sich die Wirtschaft nicht erholen, und die Sanktionen werden sicher solange bestehen bleiben, wie das Regime seine nuklearen Ambitionen weiter verfolgt. China, die Lebensader der Kim-Dynastie, scheint nicht mehr bereit zu sein, dem Land einen Blankoscheck auszustellen.

Also rückt der Tag schnell näher, an dem Kim Jong-un und sein Klan die Verantwortung für den schlimmen Zustand ihres Landes übernehmen müssen, und dies könnte bald nach dem Tod von Kim Kyong-hui der Fall sein. Sollte dies so geschehen, könnte mit den aktuellen Hinrichtungen das letzte Kapitel der Kim-Dynastie begonnen haben, obwohl das Ende dieses Kapitels –für die koreanische Halbinsel ebenso wie für ganz Ostasien – noch sehr ungewiss ist.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

Copyright: Project Syndicate, 2013. 
www.project-syndicate.org

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