„Die deutsche Nationalmannschaft ist in Brasilien gelandet und hat ihr WM-Quartier Campo Bahia bezogen.“ Was nach einem unwichtigen Detail im Vorfeld der FIFA-WM 2014 klingt, war am Pfingstsonntag für viele deutsche Nachrichtensendungen die Top-Meldung des Tages. Man mag zu den Prioritäten von Nachrichtenredaktionen stehen wie man will, aber eine zur Top-Meldung hochstilisierte Nichtigkeit wird dem WM-Hype absolut gerecht.
Deutschland wird sich ab sofort für viereinhalb Wochen in den emotionalen Ausnahmezustand versetzen. Überfüllte Fan-Meilen und Rekord-Einschaltquoten belegen immer wieder, dass sich die ohnehin schon weit verbreitete Fußballbegeisterung während der WM zu einem Massenphänomen hochschaukelt. Während der WM 2010 saßen in Deutschland gut 31 Millionen Zuschauer vor den Bildschirmen, als die deutsche Elf im Halbfinale gegen Spanien aus dem Turnier ausschied. Das Finalspiel zwischen Spanien und den Niederlanden sahen weltweit über eine Milliarde Menschen.
Angesichts dieser Euphorie können sich altgediente Fußballfans schon mal die Frage stellen, was den besonderen Reiz einer Weltmeisterschaft in der heutigen Zeit überhaupt noch ausmacht. Bis in die 80er Jahre hinein war die Frage leicht zu beantworten: Weltmeisterschaften waren damals – abgesehen von ganz wenigen Ausnahmen – die einzige Möglichkeit, Fußball live und in voller Länge im Fernsehen zu verfolgen. Von Bundesliga- und Europapokalspielen gab es, wenn überhaupt, nur kurze Zusammenfassungen. Wichtiger noch: Bis in die 80er Jahre boten praktisch nur Weltmeisterschaften die Chance, die südamerikanischen Ballartisten wie Zico oder Rivelino einmal live spielen zu sehen. Die Fußball-WM war damals nicht nur ein Sportereignis, sie stand auch für Exotik und Exklusivität.
Globalisierung ist abgeschlossen
Heute hingegen laufen die besten Fußballer aller Kontinente Woche für Woche in der Bundesliga und in den anderen großen Ligen Europas auf. Top-Stars wie der Argentinier Lionel Messi oder der Brasilianer Neymar sind auf deutschen TV-Bildschirmen keine Seltenheit mehr. Rund 70 Prozent der WM-Spieler stehen bei europäischen Vereinen unter Vertrag. In Deutschland ist der Anteil ausländischer Spieler in den vergangenen 30 Jahren von neun Prozent auf 46 Prozent gestiegen. In der Saison 1983/84 kamen gerade einmal fünf Spieler aus dem außereuropäischen Ausland, davon kein einziger Südamerikaner. Dagegen standen in der Saison 2013/14 allein 14 Spieler aus dem WM-Gastgeberland Brasilien bei Bundesligisten unter Vertrag.
Die Globalisierung des europäischen Vereinsfußballs ist nicht nur weit fortgeschritten, sie ist praktisch abgeschlossen. Überspitzt gesagt: Die Meisterschaften der weltbesten Spieler werden heutzutage Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr in den Stadien Europas ausgetragen. Dadurch ist die Exklusivität und Exotik früherer Jahre und damit auch ein guter Teil des WM-Alleinstellungsmerkmals weitgehend verloren gegangen.
Auch abseits der Fußballstadien ist die Globalisierung weit fortgeschritten. Immer öfter werden im gesellschaftlichen und im politischen Bereich die Nationalstaaten in Frage gestellt und Kompetenzen auf supranationale Institutionen übertragen. All diese Entwicklungen im Fußball und im richtigen Leben haben das Potential, Fußball-Weltmeisterschaften zu einem Anachronismus verkommen zu lassen. Doch wie kommt es, dass das Gegenteil der Fall ist und die WM immer mehr Menschen in ihren Bann zieht?
identitätsstiftende Funktionen
Bei genauem Hinsehen lassen sich gleich mehrere Gründe finden. Zuerst ist die hochprofessionelle Vermarktung zu nennen. Fußball ist heute für praktisch alle gesellschaftlichen Schichten attraktiv. Ging es bis in die 80er Jahre vornehmlich um den sportlichen Wettkampf, hat die professionelle Vermarktung aus dem Fußball ein echtes Ereignis mit jeder Menge Komfort gemacht. Zum Thema Vermarktung gehört auch die extrem hohe TV-Präsenz des Fußballs. Lange glaubten deutsche Fußballfunktionäre, der Fan müsse vor zu viel TV-Fußball geschützt werden, weil er sonst das Interesse am Stadionbesuch verlöre. Das Gegenteil hat sich als richtig erwiesen: Mit mehr Fernsehberichterstattung hat sich der Fußball nicht kannibalisiert, sondern beste Eigenwerbung betrieben.
Zudem übernimmt der Fußball eine gesellschaftliche Funktion. Die Autoren der Studie „Wir sind Nationalmannschaft“ (Institute for Sports, Business & Society) weisen darauf hin, dass in einer Zeit, in der gesellschaftliche, politische und soziale Institutionen (wie Kirchen und Parteien) an Bedeutung verlieren, der Fußball identitätsstiftende Funktionen übernimmt.
Und schließlich hat die Begeisterung viel damit zu tun, dass der Fußball Menschen miteinander verbindet und dass er ein Gruppen-Event ist. Bei einer WM geht es einer Reihe von Fußball-Begeisterten zwar auch, aber bei weitem nicht nur um den sportlichen Aspekt. Es geht darum, z.B. beim Public Viewing mit Gleichgesinnten zu feiern.
Das Phänomen Weltmeisterschaft ist also zu einem guten Teil über die Emotionen der Menschen zu erklären. Damit zeigt sich: Herdenverhalten und irrationaler Überschwang gibt es nicht nur unter Börsianern, sondern auch im richtigen Leben. Doch während Herdenverhalten und Überschwang an den Börsen ernsthafte Schäden anrichten können, wird eine Fußball-WM dadurch erst so richtig interessant.