Lisa Pollack ist Leiterin Neue Projekte bei ft.com, dem Webangebot der Financial Times. Außerdem betätigt sie sich dort als Bloggerin
Lange haben die Doyens der Start-up-Szene das Scheitern hochgehalten: Es sei ein wichtiger Schritt in der Karriere jedes Entrepreneurs. Doch wie es scheint, nimmt die Begeisterung für diese Tugend ab. Der Risikokapitalgeber und PayPal-Gründer Peter Thiel nannte das Scheitern kürzlich „überbewertet“ – und er ist nicht der einzige Abtrünnige. Das Scheitern hat, in Silicon Valley und anderswo, ein krasses Problem: Die Leute lernen nicht daraus.
Im Geheimen hoffe ich, dass ein anderes Verhalten nun den Platz des Scheiterns im Pantheon einnimmt, das mir viel näher liegt. Und zwar geht es um die Praxis des Aufgebens. Ihr Motto: „Aber ich glaube, ich lass es doch besser“.
Wichtig ist, tatsächliches Scheitern und das Flinte-in-den-Korn-werfen nicht zu verwechseln. „Aufgeben“ bedeutet zuvörderst, nicht so lange an etwas festzuhalten, bis man daran scheitern könnte. Ich zum Beispiel habe in den Jahren meiner Entwicklung eine Reihe von Dingen aufgegeben, an denen ich nicht eindeutig gescheitert bin: Pfadfinderin, Gymnastik, Skifahren, A-Level-Chemie, Ingenieurwissenschaften, verschiedene Kampfsportarten – und so viele Musikinstrumente, dass ich, wäre ich dabei geblieben, ein Ein-Frau-Orchester hätte bilden können. Nach Aussage meiner Eltern habe ich außerdem Umarmungen, Verwandte und die USA aufgegeben. Ich habe allerdings den Verdacht, sie wollten das Thema auf mich lenken.
„Loslösung vom Ziel“
Jedenfalls hat es einen Vorteil, wenn man nicht lange genug bei etwas bleibt, um zu scheitern oder Erfolg zu haben: Spielraum entsteht, um sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, die vielleicht angenehmer oder passender sind. Wenn man sieht, wie wenig einige meiner früheren Kommilitonen ihre heutigen Jobs mögen, hätten sie womöglich besser das Studienfach gewechselt, als sie noch die Möglichkeit dazu hatten. Ich glaube, viele haben das auch deswegen nicht getan, weil sie sich unbehaglich damit gefühlt hatten, ihre erste Wahl aufzugeben. Hätte man ihnen in ihren jungen Jahren erlaubt und sie dabei unterstützt, gelegentlich eine Sache fallen zu lassen, wäre es ihnen wohl leichter gefallen.
Angesichts der psychologischen und physischen Vorteile, die das Aufgeben hat – zumal, wenn ein Erfolg unwahrscheinlich ist – ist die herrschende Kritik daran sehr unglücklich. Es gibt Studien, die das bestätigen. Aufgeben hat sogar einen akademischen Terminus: „Loslösung vom Ziel“ (Nimm das, Scheitern!)
Wissenschaftler der Concordia Universität (Carsten Wrosch et al) haben 2003 zwei getrennte Studien beschrieben: Danach fühlten sich diejenigen Menschen, die sich nach eigenem Bekunden leichter von vorher festgesetzten Zielen lösen, also aufgeben, subjektiv besser. Sie berichteten seltener von verstörenden Gedanken, Stressgefühlen und sie hatten stärker das Gefühl, selbstbestimmt zu sein.
Ein anderes Ergebnis der Studien war, dass das Wohlbefinden womöglich dadurch gesteigert wird, dass man sich gleichzeitig neue Ziele setzt. Allerdings galt dies vor allem für ältere Versuchsteilnehmer. Oder, wie es die Forscher formulierten: „Junge Erwachsene scheinen sich leichter davon überzeugen zu können, dass schon noch etwas kommen wird, das sie fasziniert.“
Das Scheitern hat eine starke Lobby
Leider zieht die Studie für die Älteren, denen es nicht gelingt, neue Ziele zu finden, einen anderen Schluss: Für diese „könnte es besser sein, an einem unerreichbaren Ziel festzuhalten, als kein Ziel im Leben zu haben“. Grausig.
In einem weiteren Papier von 2007 beschäftigt sich Professor Wrosch mit einer Studie, die nicht auf Aussagen der Teilnehmer basiert sondern auf einer objektiven Messung der Gesundheit. Es wurde das Hormon Cortisol gemessen, das sich durch Stress verändern kann. Bei einer gesunden Person erreicht der Wert morgens seine Spitze und sinkt im Laufe des Tages stark ab. Die Studie zeigte, dass diejenigen, die nicht gut im Aufgeben waren, signifikant höhere Cortisol-Werte im Tagesverlauf aufwiesen als diejenigen, denen die Loslösung gelang.
Ich fürchte aber, dass trotz dieser Forschung das Aufgeben scheitern wird, das Scheitern aus dem Pantheon der beliebten Praktiken zu vertreiben. Am Ende des Tages hat das Scheitern starke Unterstützer in der Start-up- und Technologie-Szene. Und die Verfechter haben Legionen von Groupies.
Vielleicht sollte ich eine Kampagne starten, um Unterstützer für das Aufgeben zu gewinnen. Vielleicht bei Kickstarter? Im Namen all derer, die bis dato ihre Interessen nicht vollständig erkundet haben! Um die Menschen zu ermutigen, Dinge aufzugeben, die sie nicht wirklich tun müssen und die sowieso nicht besonders mögen! Probieren Sie stattdessen neue Hobbys! Andere Studienrichtungen! Andere Berufe! Möglich wären ein ganz neues Niveau der Unterstützung und genauso viele Errungenschaften! Stellen Sie sich nur einmal die vielen Möglichkeiten vor, die es für Motivationsplakate gäbe.
Aber ich glaube, ich lass es doch besser.
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