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Interview: Krise der FDP „Das D-Day-Papier spricht für einen Testosteron-Überschuss“

FDP-Chef Christian Lindner kämpft auch um sein politisches Überleben in der Partei 
FDP-Chef Christian Lindner kämpft auch um sein politisches Überleben in der Partei 
© Chris Emil Janßen / IMAGO
Julius Reiter, langjähriges FDP-Mitglied und Kanzlei-Partner von Gerhart Baum, hadert mit dem Koalitionsbruch und wünscht sich mehr Frauen in der Spitze der Partei.

CAPITAL: Herr Reiter, Volker Wissing und nun auch noch Harald Christ haben die Partei verlassen –  beide, weil sie den Ausstieg der FDP aus der Koalition zum jetzigen Zeitpunkt für verantwortungslos halten. Haben Sie auch über einen Austritt nachgedacht? 
Beide schätze ich sehr, und ihre Entscheidung hat mich natürlich nachdenklich gemacht. Der Bruch der Koalition ist aus meiner Sicht bedauerlich, der Ruf der Ampel war schlechter als die Arbeit, die sie geleistet hat. Wesentliche Teile des – guten – Koalitionsvertrags hat sie umgesetzt, aber das ist im Dauerstreit der Parteien untergegangen. Aber ich ziehe daraus eine andere Konsequenz: Ich bleibe. Ein krankes Kind verlässt man nicht. Wir brauchen weiterhin eine starke liberale Kraft. Mit Persönlichkeiten wie Christian Lindner, Marco Buschmann, Johannes Vogel, Franziska Brandmann, Konstantin Kuhle, Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Gyde Jensen haben wir die Chance, gestärkt aus der Krise hervorzugehen.

Woran krankt denn die FDP?
Um es salopp zu sagen: Die martialische Rhetorik des D-Day-Papiers spricht für einen gewissen Testosteron-Überschuss. Ich glaube, mehr Frauen in führenden Positionen und insgesamt eine breitere Aufstellung würden uns guttun.   

Christian Lindner behauptet nun, er kannte das Papier nicht, hat es auch nicht in Auftrag gegeben. Glauben Sie ihm?
Ich zweifele nicht an Christian Lindners persönlicher Integrität. Ich gehe davon aus, dass er das Papier nicht kannte und nicht in Auftrag gegeben hat. 

Das ehrt Sie. Aber für weite Teile der Bevölkerung klingt das nicht plausibel.  
Für mich schon. Als Unternehmer weiß ich, dass es normal ist, dass führende Mitarbeiter nicht bei jedem Dokument um meine Erlaubnis fragen. Der Autor des Papiers und der zuständige Generalsekretär haben die politische Verantwortung übernommen. Für mich erübrigen sich damit weitere Spekulationen.

Fehlt es der FPD-Parteiführung an Anstand und Respekt?
Nein, das kann man so pauschal auf keinen Fall sagen. Ich will aber nicht verhehlen, dass ich es sehr befremdlich finde, wie Wolfgang Kubicki jüngst auf Robert Habeck losgegangen ist. So dürfen Demokraten nicht miteinander umgehen. Auch darüber hinaus nimmt die Verunglimpfung politischer Gegner inzwischen zu viel Raum ein. Das heizt die Stammtisch-Mentalität in den sozialen Medien weiter an und vertieft die gesellschaftlichen Gräben, wovon am Ende die Anti-Demokraten profitieren.

Christian Lindner will Parteichef und Spitzenkandidat bleiben. Ist das klug? Ist er nicht eher eine Belastung?
Das wird der Wahlkampf zeigen. Christian Lindner genießt in der Wirtschaft weiter großes Vertrauen. Er muss jetzt aber der Versuchung widerstehen, die FDP als wirtschaftsliberales Anhängsel der CDU zu positionieren. Außerdem sollte er in einigen Fragen mehr Kompromissbereitschaft signalisieren – allen voran bei der Schuldenbremse mit Blick auf die Verteidigungsfähigkeit und den europäischen Technologiestandort. Die demokratischen Parteien müssen konsensfähig bleiben, sonst übernehmen irgendwann die Populisten. 

Welcher Politiker aus welcher Partei sollte ihm noch vertrauen können?  Ein Dreier-Bündnis, FDP, SPD und CDU ist da wohl kaum vorstellbar.
Nochmal, ich halte Christian Lindner für integer und vertrauenswürdig. Es geht jetzt darum, dass die demokratischen Parteien der Mitte tragfähige Kompromisse finden – gerade in der zentralen Zukunftsfrage: der Ukraine-Politik und der Sicherung von Frieden und Freiheit in Europa. Hier hat die SPD meines Erachtens bislang keine gute Rolle gespielt. Sie schürt sogar Angst in der Bevölkerung. Ein Jamaika-Bündnis muss deshalb weiterhin möglich sein. 

Hat Lindner die Partei ideologisch verengt?
Die FDP ist aus meiner Sicht heute breiter aufgestellt als vor der Lindner-Ära. Das zeigen für mich kluge Köpfe wie die oben genannten. Auch die Ernennung von Marco Buschmann zum Generalsekretär spricht gegen eine Verengung, denn sein Politikstil ist ein ganz anderer als der von Christian Lindner. Für mich kommt es jetzt darauf an, diese breite Aufstellung beizubehalten und auszubauen. Dabei sollte sich die FDP an den österreichischen NEOS orientieren. 

Warum das?
Die NEOS stehen nach meiner Wahrnehmung für einen fortschrittlichen Liberalismus, der soziale sowie ökologische Impulse aufgreift und eine greifbare und positive Zukunftsvision aufzeigt. Dass man damit auch beim Wähler punkten kann, zeigen die Wahlergebnisse. Die NEOS erzielten Ende September fast 10 Prozent bei den Nationalratswahlen in Österreich.

Hat Lindner die FPD zu sehr auf sich zugeschnitten? 
Das betrifft vor allem die Außendarstellung. Ich würde mir wünschen, dass sich die Partei hier sichtbar breiter aufstellt und unsere sozialliberalen Positionen wie das Aufstiegsversprechen auch in der Kommunikation mehr Raum einnehmen. Marktwirtschaft muss sich für alle lohnen. Die FDP muss stärker als Partei eines mitfühlenden Liberalismus wahrgenommen werden. Das heißt für mich u.a., dass wir in der Migrationsdebatte humanistisch bleiben. 

Bei Miosga gab Lindner die Parole aus: "Wir sollten in Deutschland ein kleines bisschen mehr Milei und Musk wagen" – statt Liberalismus verklärt er rechtsnationale Autokraten. Schreien Sie da nicht laut auf?
Natürlich habe ich mit dieser Aussage ein Problem. Aber ein unglücklich formulierter Appell für mehr Entschlossenheit ist keineswegs ein Signal, dass er die FDP nach rechts führen will.  Ich halte Christian Lindner für einen überzeugten Liberalen ohne jegliche Sympathie für autoritäres Gedankengut.  

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