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Kolumne Europa macht endlich wieder einen Schritt nach vorne

Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel haben ein 500-Mrd.-Euro Hilfspaket für die EU vorgeschlagen
Frankreichs Präsident Macron und Bundeskanzlerin Merkel haben ein 500-Mrd.-Euro Hilfspaket für die EU vorgeschlagen
© Getty Images
Europa zeigt sich solidarisch - endlich! Der deutsch-französische Wiederaufbaufonds und das Kreditprogramm der EU nehmen den EU-Gegnern den Wind aus den Segeln. Holger Schmieding über politische Fortschritte und die Gefahr von ökonomischen Fehlanreizen

Entgegen anderslautender Gerüchte ist der Fortschritt keine Schnecke. Stattdessen kommt er zumeist in Schüben. Dabei sind Krisen oftmals die Treiber des Wandels. Unter Druck sind wir Menschen eher bereit als sonst, alte Standpunkte zu überdenken und Neues zu wagen. In der Eurokrise hatte die Europäische Zentralbank im Juli 2012 endlich die Rolle des Kreditgebers der letzten Instanz übernommen, die Zentralbanken andernorts traditionell schon immer ausgeübt haben. Nachdem die EZB ihren möglichen Großeinsatz angekündigt hatte, konnte die Krise dann schnell abflauen. Mit dem Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) hat die Eurozone zudem eine weitere Institution geschaffen, die gefährliche Schocks abfedern kann, die vor allem einzelne Länder des gemeinsamen Währungsraumes treffen.

Mit der Covid-19 Pandemie muss die Eurozone jetzt erstmals einen Schock überwinden, der die gesamte Region erschüttert. Nachdem das politische Berlin zwei Monate lang vor allem national reagiert und offenbar den Ernst der europäischen Lage nicht erkannt hat, legte es am 18. Mai eine beeindruckende Kehrtwende hin. Aus zwei Gründen kommt der deutsch-französische Vorschlag für einen Wiederaufbaufonds von 500 Mrd. Euro einer kleinen Revolution gleich. Zum einen würde damit die Möglichkeit europäischer Institutionen, am Kapitalmarkt Anleihen herauszugeben, die von allen Mitgliedsstaaten gemäß ihrer Anteile am EU-Budget garantiert werden, erheblich ausgeweitet. Zum anderen sollen die Gelder den Empfängern als Zuschüsse und nicht als verbilligte Kredite zufließen.

Auf den Einwand der „sparsamen Vier“ (Österreich, die Niederland, Dänemark und Schweden, es solle doch lieber bei Krediten bleiben, hat dann die Europäische Kommission am 27. Mai auf ihre eigene Art reagiert: Sie hat den deutsch-französischen Vorschlag von 500 Mrd. Euro Zuschüssen um 250 Mrd. Euro Kredite ergänzt, um so den Wiederaufbaufonds mit all seinen Einzelteilen auf 750 Mrd. Euro zu bringen.

Wer spät kommt, muss mehr bezahlen

Macht der Vorschlag Sinn? Über viele Details lässt sich zu Recht streiten. Aber alles in allem stimmt die Richtung. Politisch ist die Lage klar: Wenn Europa keine gemeinsame Antwort auf die gemeinsame Herausforderung findet, wäre der Zusammenhalt der EU und des Euro massiv gefährdet. Gerade in Italien hatten viele Menschen im März den Eindruck, der geizige Norden würde das vom Virus besonders hart getroffene Land im Stich lassen. Populisten von rechts wie Matteo Salvini und von ultra-rechts wie Georgia Meloni fanden immer mehr Beifall für ihre billigen Parolen gegen Deutschland und Europa. Nachdem Berlin jetzt endlich ein großzügiges Signal der Solidarität gesandt hat, dürften die pro-europäischen Stimmen in Italien wieder etwas leichter Gehör finden.

Ökonomisch fällt das Urteil weniger eindeutig aus. Es macht Sinn, die Kosten der gemeinsamen Krise gemeinsam zu schultern. Dafür hätte es sich angeboten, so früh wie möglich einen gemeinsamen Fonds einzurichten, der für die Dauer der Pandemie gemeinsame Anleihen nach dem Vorbild der Schuldtitel des ESM herausgibt. So hätten sich alle Länder der Eurozone zu erträglichen Kosten die Mittel beschaffen können, um den beispiellosen Konjunktureinbruch des Jahres 2020 zu überstehen. Eine solche Idee hatten einige andere Ökonomen und ich im März unterbreitet. Leider hat der Vorschlag für derartige Corona-Bonds, die ihren Ausnahmecharakter bereits im Namen getragen und nur im Jahr 2020 begeben werden sollten, in Berlin keinen politischen Anklang gefunden.

Wer spät kommt, muss mehr bezahlen. Um die politischen Gefahren einzugrenzen, zu denen der lange und lautstarke Streit um die europäische Solidarität beigetragen hat, mussten Berlin und Brüssel jetzt weit ausholen. Ein auf viele Jahre angelegter Fonds, dessen Mittel zur zwei Dritteln als verlorene Zuschüsse statt als Kredit ausgezahlt werden sollen, geht weiter über die unmittelbare Hilfe im akuten Notfall hinaus. Je länger und großzügiger das Geld vergeben wird, desto größer die Gefahr, dass der Fonds falsche Anreize setzt. Während es bei einem reinen Notfallfonds für 2020 ausgereicht hätte, die sachgemäße Verwendung der Mittel zu prüfen, muss die EU bei einem Langfristprogramm genau darauf achten, dass die Empfängerländer sich nicht an die Transfers gewöhnen. Damit das große Programm auch wirtschaftlich Sinn macht, muss die EU die Vergabe der Mittel an die Bedingung knüpfen, dass Empfängerländer wie Italien gleichzeitig und nachprüfbar wachstumsfördernde Reformen umsetzen.

Der Einigungsdruck ist hoch

Der Streit um solche Bedingungen dürfte in den kommenden Monaten und Jahren mancherlei Staub aufwirbeln. Allerdings liegt darin auch eine Chance. Reformen tun oft weh. Mit dem Geld aus dem neuen Topf könnte es Ländern wie Italien leichter fallen, den anfänglichen Schmerz solcher Reformen abzufedern. Sollte das Geld tatsächlich dazu führen, dass Italien seine Wachstumskräfte stärkt, indem es beispielsweise seine träge Verwaltung und sein noch langsameres Justizwesen reformiert, wäre es für Europe eine lohnenswerte Investition. Bereits in der Eurokrise hatte es sich ausgezahlt, den damaligen Krisenländern günstiger Kredite im Gegenzug zu durchgreifenden Reformen anzubieten. Gerade Griechenland steht heute strukturell weit gesünder da als vorher.

Wenn das vorgeschlagene Wiederaufbauprogramm richtig umgesetzt wird, kann es Europa einen großen Schritt voranbringen. Trotz aller Widerstände spricht viel dafür, dass die EU bis Ende des Jahres ein solches Programm beschließen wird. Schließlich will Kanzlerin Angela Merkel im zweiten Halbjahr 2020, in dem Deutschland turnusgemäß den Vorsitz im Europäischen Rat übernimmt, den Zusammenhalt Europas und damit das wohl wichtigste Erbe ihrer vier Amtszeiten sichern. Mit einigen weiteren deutschen Zugeständnissen dürfte ihr das letztlich gelingen. Im Schatten der Pandemie ist der Einigungsdruck hoch.

Allerdings erleben die Europäische Union und die Eurozone auch mit diesem Programm nicht einen „Hamilton Moment“. 1790 hatte der erste Finanzminister der USA Alexander Hamilton die US-Fiskalunion begründet, indem er die Anleihen der oft hoch verschuldeten Bundesstaten vergemeinschaftete und im Gegenzug die Fiskalpolitik weitgehend auf die Bundesebene übertrug. Selbst unter Einbezug aller weiteren Programme, die Europa als Antwort auf die Pandemie schon beschlossen hat, werden die gemeinschaftlich abgesicherten Anleihen europäischer Institutionen auch 2024 nur etwa 14 Prozent aller gesamten Staatsanleihen in der Eurozone ausmachen. Derzeit liegt der Anteil des ESM, der EIB und der Europäischen Kommission bei etwa 7,5 Prozent.

Europa zeigt sich solidarisch. Aber auf dem Weg in eine volle Fiskalunion sind die EU und die Eurozone nicht. Stattdessen dürfte Europa sich von Krise zu Krise jeweils einen neuen Ruck geben, um den jeweils aktuellen Herausforderungen gerecht zu werden.

Holger Schmieding ist Chefvolkswirt der Berenberg Bank. Er schreibt hier regelmäßig über makroökonomische Themen. Weitere Kolumnen von Holger Schmieding finden Sie hier

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