Daniel Gros ist Direktor der Brüsseler Denkfabrik Centre for European Policy Studies.
Viele Europäer haben angesichts der enormen Flüchtlingsströme das Gefühl, ihre Länder würden überrollt. Egal, ob sie die Einwanderer mit eigenen Augen gesehen oder über die Medien von ihnen gehört haben: Die Europäer sind sich der großen Zahl verzweifelter Menschen sehr bewusst, die um jeden Preis in die Europäische Union gelangen wollen. Aber dieses Bewusstsein muss erst noch in eine gemeinsame Antwort übersetzt werden.
Die Spannungen unter den Mitgliedstaaten nehmen offensichtlich zu – vielleicht, weil die Probleme je nach Land so unterschiedlich sind. Pro Kopf betrachtet erhält Schweden 15 Mal so viele Asylanträge wie Großbritannien, wo die offizielle Flüchtlingspolitik weiterhin am feindseligsten ist. Das Hauptziel für die meisten Flüchtlinge ist jetzt Deutschland. Das Land nimmt, ebenfalls pro Kopf der Einwohner betrachtet, fast 40 Prozent der EU-weiten Zuwanderer auf. Sogar unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl ist es ein Vielfaches mehr als der Durchschnitt der EU-Staaten.
In der EU gibt es klare Regeln, wer für die Flüchtlinge verantwortlich ist: Nach der sogenannten Dublin-Regel ist der erste EU-Mitgliedsstaat, den ein Flüchtling betritt, für den Asylantrag dieser Person zuständig. Aber das ist offensichtlich ein Problem, da die gesamte Last der Flüchtlingsströme damit den EU-Grenzländern zugeschoben wird. In den 1990er-Jahren, als die EU-Länder insgesamt jährlich nur etwa 300.000 Asylanträge bearbeiten mussten, war das vielleicht noch kein großes Problem, aber in einem Jahr, in dem wahrscheinlich das Dreifache erreicht wird, kann es nicht funktionieren.
Deutschland kann nicht alle Flüchtlinge aufnehmen
Kleinere Grenzländer wie Ungarn und Griechenland haben einfach nicht die Kapazitäten, Hunderttausende von Asylbewerbern zu registrieren und unterzubringen. Und größere Länder wie Italien sind geneigt, die große Zahl von Flüchtlingen, die an ihren Küsten landen, zu ignorieren. Sie müssen nichts unternehmen, damit diese Flüchtlinge weiterziehen (hauptsächlich nach Nordeuropa).
Deutschland weiß, dass das Dublin-System nicht haltbar ist, und hat entschieden, alle Asylanträge syrischer Staatsbürger zu bearbeiten, unabhängig davon, über welche Grenze sie in die EU gekommen sind. Ein Grund für diese Entscheidung mag die Tatsache sein, dass angesichts der durchlässigen internen EU-Grenzen kaum nachvollzogen werden kann, wo der erste Einreisepunkt war. Wahrscheinlich wurde das deutsche Verantwortungsbewusstsein in dieser Hinsicht auch durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahr 2013 geschärft, wonach Deutschland einen iranischen Flüchtling nicht nach Griechenland zurückschicken durfte (weil der Asylbewerber sonst dem „echten Risiko ausgesetzt“ gewesen wäre, „unmenschlich oder erniedrigend behandelt“ zu werden).
Nach Bevölkerungsanzahl und Wirtschaftsleistung ist Deutschland der größte Mitgliedstaat der EU, daher ist es in gewisser Weise sinnvoll, dass das Land die Führung übernimmt. Trotzdem aber lebt in Deutschland nur weniger als jeder fünfte Einwohner der EU, und das Land sorgt nur für ein Viertel der EU-Wirtschaftsleistung. Also kann Deutschland nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, die momentan nach Europa kommen.
Euopa im Dilemma
Vor einigen Monaten versuchte die Europäische Kommission, dieses Problem mit einem mutigen Vorschlag zu lösen: Die Flüchtlinge sollten unter den Mitgliedstaaten anhand einer einfachen Gleichung aufgeteilt werden, die Bevölkerungszahl und BIP berücksichtigt. Aber der Plan wurde von den Mitgliedstaaten (hauptsächlich von denen mit den wenigsten Flüchtlingen) mit der Begründung abgelehnt, er stelle einen ungerechtfertigten Eingriff in die nationalen Befugnisse dar.
Das hat die EU in eine ihrer gewohnten verfahrenen Situationen gebracht: Jeder erkennt das Problem, aber eine Lösung erfordert eine nicht erreichbare Einstimmigkeit, da jedes Land seine eigenen Interessen verteidigt. Der einzige Weg vorwärts besteht jetzt darin, die Länder, die sich der Aufnahme von Flüchtlingen am meisten entgegenstellen, zumindest temporär außen vor zu lassen, und gemeinsam mit den Ländern, die zur Übernahme von Verantwortung bereit sind, eine Lösung zu finden. Dies mag zwar nicht „fair“ sein, aber angesichts steigender Flüchtlingszahlen an den Grenzen kann Europa sich Zeitverschwendung nicht leisten.
Die Krise hat aber noch eine weitere Dimension, die eine Lösung schwierig macht. Die Migranten stammen nicht alle aus Konfliktgebieten wie Syrien und haben daher nicht alle nach internationalem Gesetz ein „Recht auf Asyl“. Es gibt auch viele Wirtschaftsflüchtlinge, beispielsweise aus den ärmeren Teilen des Balkans, die hoffen, der Armut zu Hause zu entkommen – und dafür bereit sind, das Asylrecht zu missbrauchen.
Lasten besser verteilen
Einen Antrag zu stellen, ist auch ohne die Chance einer Annahme verlockend, da Antragsteller bis zu ihrer Ablehnung eine einfache Unterkunft, soziale Dienste (wie Gesundheitsfürsorge) und ein Taschengeld erhalten, das vielleicht höher ist als die Löhne in ihren Herkunftsländern. Ein paar Monate in Nordeuropa zu verbringen, während der Asylantrag bearbeitet wird, könnte viel attraktiver sein, als zu Hause in einem Job zu arbeiten, der kaum den Lebensunterhalt sichert – wenn überhaupt Arbeit vorhanden ist.
Mit der Zunahme der Asylbewerber steigt auch die Bearbeitungszeit für ihre Anträge, was das System für Wirtschaftsmigranten umso reizvoller macht. Und in der Tat kommt die Hälfte aller Asylbewerber in Deutschland heute aus sicheren Ländern wie Serbien, Albanien oder Mazedonien. Während die europäischen Populisten solche Fälle von „Wohlfahrtstourismus“ dazu missbrauchen, in der europäischen Öffentlichkeit Angst und Wut zu schüren, werden Vereinbarungen zur Unterbringung tatsächlicher Flüchtlinge immer schwieriger.
Vor diesem Hintergrund muss die EU an zwei Fronten zur Tat schreiten: Erstens müssen ihre Mitgliedsländer dringend ihre Kapazitäten zur Bearbeitung von Asylanträgen erhöhen, damit sie schnell feststellen können, wer wirklich Schutz benötigt. Und zweitens muss die EU die Verteilung der Lasten durch die Aufnahme bestätigter Asylanten verbessern – idealerweise unter allen Ländern, aber vielleicht zuerst einmal unter einer kleineren Gruppe. Das und nichts anderes erfordert internationales Recht – und die grundlegende Moral.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
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